Den Tod überlistet

Anker
«Dummheit, Irrtum, Sünde, Geiz hausen in unserm Geiste,
plagen unsern Leib, und wir füttern unsere liebenswürdigen Gewissensbisse,
wie die Bettler ihr Ungeziefer nähren.»

Charles Baudelaire

Erstes Kapitel
Den Tod überlistet
Zum ersten Mal, seit ich hier bin, sind schon seit Tagen die Schleusen des Himmels geöffnet. Das ist sehr ungewöhnlich. Normalerweise hüllt ein hartnäckiger Nebel die eigentümliche Szenerie ein, die sich mir draussen offenbart. Aber jetzt ist ein steter Bindfadenregen hinzugekommen, der mich einerseits mit seinem eintönigen Rauschen beruhigt, mich aber andererseits seit seinem unerwarteten Auftreten in ebensolchem Masse beunruhigt. – Langsam verschwindet der Nebel, und es sind absolut keine Regenwolken zu sehen. Ich kann durch die Regenwand hindurch die kosmische Schwärze erkennen und deutlich die Sterne funkeln sehen.
«Wenn es weiterhin wie aus Kübeln schüttet, ziehe ich den Bau einer zweiten Arche ernsthaft in Betracht», dachte ich lächelnd.
Auch wenn es dazu eigentlich schon zu spät wäre.
***
Zuweilen schränkt ein pulsierendes Skotom mein Gesichtsfeld beträchtlich ein, und ich habe das Gefühl, als schaute ich in den Eingang eines Wurmlochs, zumindest zu Beginn des Prozesses, den mein Hirn völlig unerwartet und zumeist unpässlich einleitet. Als leuchtete eine Aurora borealis vor meinen Augen, oder als tauchte eine Qualle aus den Tiefen meines Bewusstseins langsam an die Oberfläche empor, elegant und anmutig wie ein Engel, um schliesslich an der Innenseite meines Schädels anzustossen, wieder und wieder. Mein Gesichtsfeld ist deutlich eingeschränkt, vor meinen Augen scheint etwas herumzuwabern wie Antimaterie in einem Vakuum. Dieses wabernde Etwas schickt sich unmittelbar nach seinem Erscheinen an, unter Begleitung von plötzlich auftretenden Kopfschmerzen anzuwachsen und schliesslich nach zirka einer halben Stunde mein Gesichtsfeld zu verlassen und sich hinter meinen Augen im Kopf einzunisten, wo es bleibt und sich dezent zurückhält.
Warum nur sollten die Synapsen in meinem Gehirn eine derartige Aktion auslösen und meine kongenitalen optischen Fähigkeiten durch diese Fehlkontakte so einschränken, dass ich Dinge sehe, die mir mein Gehirn vorgaukelt zu sehen – das unbekannt Vertraute, aber dennoch nicht Erwünschte – und trotzdem in seiner Art Wunderschöne. Es hilft auch nichts, während dieser Phase eingeschränkter optischer Wahrnehmung die Augen zu schliessen und zu warten, bis es vorüber ist. Ich sehe es auch mit geschlossenen Augen, es ist einfach da, es hat sich in meinem Sehzentrum als etwas manifestiert, das auf seiner Daseinsberechtigung beharrt wie eine Narbe oder eine Tätowierung. Wie dem auch sei, ich habe mit diesem szintillierenden Skotom, wie es im Fachjargon heisst, nun mal zu leben. Aber, und das müsst ihr mir glauben, es gibt Schlimmeres, als ein funkelndes Etwas vor Augen zu haben, das eigentlich gar nicht da ist und flimmert wie ein Stroboskop auf niedriger Betriebsstufe.
Auslöser ist jeweils ein unkontrollierter Blick in einen Punkt gebündelten Lichts, der sich auf der Innenseite meiner Augen festhakt und sich zu einem ruckenden Diamanten ausweitet, welcher ständig seine Farbe wechselt. Das ist mir vor ungefähr fünfundvierzig Minuten widerfahren, weswegen ich gezwungen war, die Niederschrift meiner Geschichte kurz zu unterbrechen und abzuwarten, bis sich mein Gesichtsfeld wieder normalisiert hat. Während dieser physischen Beeinträchtigung habe ich dann kurzerhand beschlossen, meine Geschichte mit der Beschreibung dieses Handicaps zu beginnen, auch wenn es nicht einfach ist, dies in Worte zu fassen. Wenn das Skotom in seinem vermeintlichen Vorhandensein auch wächst und wieder verschwindet, heisst das nicht, dass die damit einhergehenden Kopfschmerzen gleichfalls verschwinden. Im Gegenteil, die sind nur der Auftakt zu einem veritablen Migräneanfall. Die Qualle in meinem Kopf will mir also mit ihrem Erscheinen weismachen, dass ich in absehbarer Zeit unter so heftigen Kopfschmerzen leiden werde, dass meine Gedanken brennen – ein Flächenbrand auf meiner Gehirnrinde.
Das kann ich nur bestätigen, denn dieser Zustand ist bereits eingetreten. Ich bin bestimmt kein klassischer Migränepatient, der sich während der Schmerzattacken am besten bei völliger Verdunkelung in die Horizontale begibt, nein das bin ich nicht. Ich bin auch jetzt noch durchaus imstande, klar zu denken und meine Gedanken – wie ihr seht – nachträglich zu Papier zu bringen. Vielleicht will mir das Skotom aber nicht nur verraten, dass eine Migräne im Anmarsch ist, sondern noch etwas ganz anderes mitteilen, nämlich etwas, das zu verstehen ich noch nicht befähigt bin. Vielleicht sind es visualisierte Gedanken von der Person, in deren Traum ich mich befinde, und mein Gehirn – oder zumindest einige Gehirnregionen – müssen erst noch lernen, mit einer solchen Information umzugehen. Und die Kopfschmerzen sind bloss eine Folge der Überlastung dieser bestimmten Gehirnregionen. Na ja, das sind natürlich nur Mutmassungen, und vielleicht noch ein wenig Wunschdenken. Auf alle Fälle werde ich mein Skotom – und das im wahrsten Sinne des Wortes – im Auge behalten.
Ihr könnt es mir glauben oder nicht: Ich bin einer jener Menschen, die einfach ein Buch schreiben müssen, sowie es Menschen gibt, die unbedingt kopfüber an einem Gummiseil von einer Brücke springen müssen. Ob ich dazu fähig bin – zum Schreiben eines Buches –, weiss ich in diesem Moment noch nicht. Wahrscheinlich muss man zum Schreiben geboren sein, das Talent dazu muss einem schon in die Wiege gelegt worden sein. Epigenetisch betrachtet heisst das etwa, dass das Gen, das fürs Schreiben zuständig ist – und ich meine jetzt nicht das Schreiben an und für sich, das man in der Schule lernt, sondern das Schreiben von anspruchsvoller Prosa oder die Dichtkunst – dass also dieses Gen, das eingebettet ist in der Doppelhelix der DNA, aktiviert werden muss. Dafür zuständig sind chemische Stoffe in unserem Körper, welche quasi als on-/off-Schalter fungieren.
Nun, wie dem auch sei, wichtig ist im Moment, dass ich beginne zu schreiben und euch erzähle, was sich in meinem nichtigen Leben zugetragen hat. Ich rate euch: Erwartet nicht zu viel. Ob ich nun von mir erzähle oder von wem oder was auch immer, spielt keine Rolle. Alle Geschichten gehören zusammen, sie sind ineinander geschachtelt und bilden als Ganzes das Leben, das für die Dauer seiner berechtigten Existenz den universellen Kräften zu trotzen versucht – und das in der Tat mit erstaunlichem Erfolg, denn die Zeit kennt keine Gnade und lässt alles ins Chaos driften.
Zurzeit sitze ich hier an meinem Schreibtisch und muss diese Geschichte zu Papier bringen, weil ich Teil einer Geschichte bin, in der ich eine Geschichte schreibe. Und überhaupt: Schliesslich lebt man, um zu erzählen. Während ich diese Zeilen niederschreibe, hocke ich in meinem Hotelzimmer, das ich seit geraumer Zeit bewohne und wo ich bestimmt noch eine Zeitlang bleiben werde – wie lange, kann ich nicht sagen, vielleicht für immer. Es ist ein sehr angenehmes Zimmer, die Einrichtung entspricht exakt meinen Vorstellungen eines perfekten Hotelzimmers – es ist sehr geräumig und von ansprechender Raumhöhe, der Riemenparkett ist teils mit exklusiven Teppichen belegt und die Möblierung ist in ihrer Gesamtheit sehr geschmackvoll ausgefallen. Die beiden Kreuzstockfenster bieten einen wunderbaren Blick aufs Wasser, schade nur, dass die Sicht meistens durch einen hartnäckigen Nebel getrübt ist. Und dass es jetzt auch noch wie aus Kübeln schüttet, nährt in mir den Verdacht, dass meine Zeit möglicherweise bald abgelaufen ist.

***

Das erste, das ich zu hören bekam, als ich das Licht dieser wunderbaren Welt erblickte, war das Gespräch zwischen meiner Mutter und der Hebamme, die damals in der Nachbarschaft wohnte und allen werdenden Müttern in unserem Viertel, die zu Hause gebaren, im entscheidenden Moment zur Hand ging.
«Na wenn das mal kein strammer Junge ist», sagte die Geburtshelferin, während sie mich kopfüber an den Füssen hielt. «Wie soll der Kleine denn heissen?»
Erschöpft und schweissnass vor Anstrengung gestand meine Mutter, dass man sich noch für keinen Namen für mich entschieden habe und fragte die Hebamme, welche mich gerade von oben bis unten wusch, wie sie mich nennen würde. Da es heute der 15. August sei und sie ihren eigenen drei Kindern jeweils einen der Namen gab, deren Namenstag gerade war, schlug sie meiner Mutter vor, mich Rupert zu nennen.
So, nun wisst ihr es: Mein Name ist Rupert. Ich wurde am 15. August 1962 zu Hause geboren. Hausgeburten waren damals gang und gäbe. Ich war ein Säugling durchschnittlicher Grösse und schien gesund, nur gab ich partout keinen Laut von mir. Aus diesem Grund wurde ich zur Untersuchung ins Spital gebracht und gründlich durchgecheckt. Aber auch dort blieb ich still. Und so sollte es auch bleiben: Bis zu meinem dritten Lebensjahr sollte ich weder schreien noch sonst kaum einen Laut von mir geben, geschweige denn sprechen. Ich war zweifellos ein hoch zufriedener Säugling. Ich bekam regelmässig meine Milch und später meine Nahrung, meine schmutzigen Windeln wurden gewechselt, an Zuneigung und Zärtlichkeiten fehlte es mir nicht. Es bestand absolut kein Grund, mich zu beklagen. Also schwieg ich. Und um meiner Zufriedenheit Ausdruck zu geben, lächelte ich tonlos. So habe ich schon im Säuglingssaal gemerkt, dass man mit Schweigsamkeit mehr Aufmerksamkeit auf sich ziehen konnte als mit Schreien. Alle Neugeborenen ausser mir plärrten, was das Zeug hielt. Dementsprechend genervt waren die Säuglingsschwestern. Ich hingegen bewahrte die Ruhe und lächelte die Schwestern an. So habe ich sie regelrecht um den Finger gewickelt und verschaffte mir dadurch eine Sonderbehandlung. Ich wurde schnell der Liebling auf der ganzen Säuglingsstation. Alle wollten sich in den ersten Tagen meines Lebens um mich kümmern – und ich genoss es. Ich lauschte den Geräuschen, die die Schwestern um mich herum erzeugten, und dem immer wiederkehrenden Geschrei der Säuglinge und machte mir meine Gedanken zu all dem, so weit ich damals dazu imstande war. Auf diese Art wurde ich schon früh ein routinierter Denker, der in seiner Schweigsamkeit einen Weg fand, sich das Leben erträglicher zu machen.
Dann im Alter von sechzehn Monaten fiel meiner Mutter auf, dass ich unregelmässig und für meine Verhältnisse äusserst lautstark zu atmen begann. Also nahm sie mich aus meinem Bettchen zu sich ins elterliche Ehebett und legte mich neben sie, wo eigentlich mein Vater liegen sollte. Der befand sich aber gerade mal wieder im Ausland und baute für eine Zürcher Firma Anlagen für elektrostatische Gasreinigung. Aber dazu später mehr. In der Nacht dann wurde das Schnaufen zu einem Röcheln, und ich begann allmählich herumzuzappeln wie ein Fisch an Land. Inzwischen war auch meine Grossmutter mütterlicherseits erwacht und ins Schlafzimmer gekommen.
«Ach du meine Güte! Kind, was ist passiert?», fragte sie aufgeregt.
«Ich glaube, er kriegt keine Luft mehr», schrie meine Mutter.
Sofort packte meine Grossmutter mich an den Füssen wie eine Ratte und klopfte mir auf den Hintern.
«Geh und hol’ Mathilde!»
Zwei Minuten später kam sie mit der netten Nachbarin von nebenan zurück. Kaum hat mich die schlaftrunkene, fettleibige Frau mittleren Alters gesehen, war sie auch schon hellwach, schob meine weinende Mutter zur Seite und fasste mich an den Füssen, wie es kurz zuvor meine Grossmutter getan hatte. Dann holte sie aus und schlug meinen schlaffen, hilflosen kleinen Körper, der inzwischen eine eigenartige Farbe angenommen hatte, wieder und wieder aufs Bett, bis ich von Neuem zu röcheln begann.
Das war meine erste und bislang einzige Nahtoderfahrung. Und ich kann euch eins sagen: Ich habe weder ein gleissendes Licht am Ende des Tunnels gesehen, noch sind mir die Geistwesen verstorbener Verwandter erschienen. Ich hatte weder ausserkörperliche Wahrnehmungen, noch empfand ich Liebe und Wärme. Ich kriegte einfach keine Luft mehr und bin gestorben – typischer Kindstod. An der Pforte zum Himmel sah ich gerade noch den Hintern von Petrus, der sich von mir entfernte und in der himmlischen Diesigkeit verschwand. Dann wurde es still, und wenn ich still sage, dann meine ich auch still. Da waren keine unangenehmen Geräusche, da war gar nichts mehr. Totale Ruhe. Nada. Es war herrlich. Leider hielt dieser elysische Zustand nicht lange an, und schon bald drangen mir das Wimmern und Weinen meiner Mutter und das energische Auf-mich-Einreden Mathildens und meiner Grossmutter an mein Ohr.
«Reiss dich zusammen, Kleiner, komm zurück, deine Zeit ist noch nicht abgelaufen.»
Hätte ich einen wirklich triftigen Grund gehabt, mein Leben hinzugeben, dann hätte ich das auch getan. Aber da war kein Grund, für den sich ein solches Opfer gerechtfertigt hätte. Also kam ich zurück. Nach meiner wundersamen Rettung durch Mathilde wurde ich unverzüglich ins Spital gebracht, wo ich diesmal für längere Zeit bleiben sollte. Denn während ich so dahinschied, hatte sich mein kleiner Körper total verkrampft, und ich sollte noch lange an den Folgen dieses Todeskampfes leiden. Aber auch das nahm ich gelassen hin und genoss erneut die uneingeschränkte Aufmerksamkeit des Pflegepersonals. Dass ich in diesem Zustand weder weinte noch schrie, fanden die Ärzte recht seltsam, kamen dann aber zum Schluss, dass meine Stimmbänder und meine Zunge es mir einfach nicht ermöglichten, mich in irgendwelcher Form zu artikulieren. Nicht nur meine Augen hatten sich derart verdreht, dass ich noch jahrelang fürchterlich schielen sollte, auch meine Zunge hatte sich aufgewickelt wie eine Ringelnatter um einen Ast. Ich blieb ein paar Wochen in der Obhut der Ärzte. Während meines Klinikaufenthalts bekam ich natürlich viel Besuch. Zuweilen waren da so viele Leute im Zimmer, die sich um mein Bettchen scharten wie die Geier um einen Kadaver, dass mir nichts anderes übrig blieb, als auf der Stelle einzuschlafen. So glaubte ich, mich den gierigen Blicken der Besucher entziehen zu können.
Wieder zu Hause, ging es in gleicher Manier weiter: Das ganze Viertel kam mich besuchen. Nebst den Meldungen über das Grubenunglück von Lengede in Deutschland im Rundfunk und im Fernsehen war ich die Sensation im Viertel: Ein kleiner, schweigsamer Junge, der dem Tod ein Schnippchen geschlagen hat. Meine Rettung durch Mathilde wurde der Rettung der eingeschlossenen Bergleute in der Erzgrube Mathilde der Ilsener Hütte in Lengede gleichgesetzt. Nicht nur hatte meine Retterin denselben Namen wie die Erzgrube, aus der am 7. November 1963 nach beinahe zwei Wochen die elf letzten noch lebenden Bergleute gerettet wurden, die durch einen gewaltigen Wasser- und Schlammeinbruch eingeschlossen worden waren, nein, die beiden Rettungen fanden sogar zeitgleich statt. Mathilde, die Nachbarin, setzte grosse Stücke auf diese Gemeinsamkeiten und sprach damals von nichts anderem. Solche Synchronizitäten seien schliesslich nicht alltäglich, meinte sie. Eigentlich ging mir das alles so richtig gegen den Strich. Ich wurde mehr und mehr zu einem Kind der Öffentlichkeit. Und genau das versuchte ich zu vermeiden. Dass Bollwerk, das ich mittels meiner Schweigsamkeit errichtet hatte, drohte mehr und mehr einzustürzen wie die Mauern zu Jericho. Um mir meine gewünschte Ruhe wieder zu verschaffen, musste ich mir eine andere Strategie zurechtlegen.
Während meiner Genesung wurde ich liebevoll umsorgt, nur mit Samthandschuhen angefasst, sowohl von meiner Mutter, meiner Grossmutter wie auch von meinen zwei älteren Geschwistern, soweit die beiden dazu fähig waren. Besonders zu meiner Grossmutter entwickelte ich eine innige Beziehung. Sie kümmerte sich während meiner Rekonvaleszenz rührend um mich. Sie unterstützte meine Mutter tatkräftig bei der Erziehung von uns Kindern und bei der Führung des Haushalts. Sie ersetzte während jener Zeit den Vater, der nicht da war.