Der Schürzenjäger


Auszug aus dem vierundzwanzigsten Kapitel
Der Schürzenjäger


Das Schäfli in Wald war zum Brechen voll, als Poxleitner und seine Haushälterin eintreten wollten, obwohl es erst kurz nach zwanzig Uhr war. Kein Wunder, die Gaststube war nicht besonders gross, verströmte aber einen besonderen, durchaus angenehmen Charme. Er hatte seine Haushälterin überreden können, ihn nach Wald zu begleiten. Frau Sommer kannte sich in der Gegend aus, und auch das Schäfli in Wald war ihr bekannt. Ohne zu zögern nahm sie die Einladung Poxleitners an. Sie bestellten sich ein Taxi und liessen sich nach Wald chauffieren. Und jetzt standen sie hilflos im Eingang der überfüllten Gaststube, inmitten froh gelaunter Leute jeden Alters, die der lüpfigen Musik lauschten, welche Quinten und seine Kameraden spielten. Die kleine Kapelle, bestehend aus Quinten an der Handorgel, seinem Freund Ruedi, auch er an der Handorgel, Peter, der den Kontrabass zupfte, und Melchior an der Klarinette, schien sich grösster Beliebt- und Bekanntheit zu erfreuen. Die vier jungen Männer traktierten, eng zusammenge­pfercht in einer Ecke der Schankstube, gekonnt ihre Instrumente, als Quinten Poxleitner, der immer noch im Eingang stand wie jemand, der sich in der Tür geirrt hatte, erblickte und ihm freundlich zunickte. Durch entsprechende Mimik gab Quinten dem dandyhaften Poxleitner zu verstehen, dass er sich kurz gedulden solle. Wenige Augenblicke später, als das Stück zu Ende war und heftiger Applaus den Raum erfüllte, stand Quinten vor Poxleitner und seiner Haushälterin, reichte ihnen die Hand und hiess sie, ihm zu folgen. Er führte sie an einen Tisch, an dem es kaum Platz für zwei weitere Gäste hatte. Aber auf Geheiss Quintens rutschten die Leute usammen und zwei Stühle wurden herangeschafft, sodass die beiden schon nach wenigen Sekunden ihren Platz gefunden hatten. Poxleitner bestellte sich ein Bier, Frau Sommer wünschte ein Glas Rotwein. Dicker Rauch hing über den Tischen wie Morgennebel über spiegelglattem Wasser. Für einen kurzen Moment vermisste Poxleitner die grosszügigen Wiener Kaffeehäuser mit ihren weitläufigen Räumlichkeiten.
«Aber was solls», dachte er, «das hier ist die Schweiz von ihrer ureigensten Seite, und nicht Wien.»
Es wurde gelacht, getrunken und geraucht, es wurde so viel gequalmt, dass die rauchgeschwängerte Luft Poxleitner allmählich in den Augen zu brennen begann. Der Rauch schien ausser ihn niemanden zu stören. Selbst die vier Musiker nutzten jede Gelegenheit, eine Zigarette anzuzünden, am schlimmsten Quinten und Ruedi, die sogar während des Musizierens einen Glimmstengel im Mundwinkel hatten. Ein paar ganz Unerschrockene wiegten sich zwischen den Tischen im Tanze, und für die beiden Serviertöchter war es beileibe nicht einfach, überall hinzukommen und die Gäste zu bedienen. Poxleitner hatte soeben sein zweites Bier von einer der beiden aparten Mädchen hingestellt bekommen, als sich die Musiker anschickten, eine Pause einzulegen. Jeder der vier zündete sich sofort eine Zigarette an und alle füllten ihre Lungen mit dem blauen Dunst, als wäre es der reinste Sauerstoff. Dann griffen sie nach ihren Gläsern, prosteten einander und den Gästen zu und nahmen herzhafte Schlucke vom Weissen, der ihnen von einem grosszügigen Bewunderer ihrer Musik offeriert worden war. Poxleitner lächelte Frau Sommer an und wischte sich die Stirn mit seinem Taschentuch. Es war heiss im Schankraum. Frau Sommer lächelte mit leicht erröteten Wangen zurück, als Quinten an den Tisch trat, sich mit den Händen am selben abstützte und sich, leicht vornübergebeugt, nach dem Befinden der beiden erkundete.
«Oh, auch wenn ich es nicht gewohnt bin, solch gesellschaftlichen Vergnügungen beizuwohnen, verbringe ich doch eine recht angenehme Kurzweil hier im Schäfli. Eine durchaus interessante Erfahrung», antwortete Poxleitner und räusperte sich ob all des Qualms, der es auf ihn abgesehen zu haben schien und ihn und Frau Sommer regelrecht einhüllte, als ob eine unsichtbare Kraft von ihnen ausging, welche das flüchtige Gebilde anzog wie das Licht die Motten.
«Wie gefällt Ihnen unsere Musik?», fragte Quinten.
«Soweit ich das beurteilen kann, verstehen Sie und ihre Kollegen Ihr Handwerk ausgezeichnet», erwiderte Poxleitner. Frau Sommer bestätigte sein Urteil mit heftigem Kopfnicken. «Die Musik gefällt uns. Genau das Richtige für meine kleine Festlichkeit.»
«Vielen Dank. Unser Repertoire umfasst noch andere Stilrichtungen. Zum Beispiel Zigeuner- oder Jazzmusik, Schlagermusik sämtlicher Couleurs, deutsche, italienische und natürlich österreichische, wir spielen Seemannslieder und Meeresballaden und – Ländlermusik. Hier im Schäfli spielen wir ausschliesslich einheimische Volksmusik, die Gäste wollen nichts anderes hören.»
Quinten drückte seine Zigarette aus und entschuldigte sich, bevor er wieder zurück zu seinen Freunden ging.
«Die jungen Männer verfügen über ein beeindruckendes, vielseitiges Repertoire», dachte Poxleitner und hoffte insgeheim, dass, wenn sie deutschen oder österreichischen Schlager spielten – diese unbedarfte Tanz- und Unterhaltungsmusik mit einfachsten musikalischen Strukturen –, sie darauf verzichten werden, die trivialen Texte zu singen, Texte, die mit ihrem meist dämlichen Wortlaut an das unstillbare Glücks- und Harmonieverlangen der Zuhörer appellieren, als gäbe es keine anderen Themen, über die zu singen es sich lohnt. «Aber halt», tadelte sich Poxleitner in Gedanken, «die Musiker sollen spielen, was sie wollen, und singen, wann sie wollen. Hauptsache den Mädchen wird es gefallen.»
Und den Mädchen hat es gefallen. Gut zwei Wochen nachdem die jungen Österreicherinnen voller Hoffnung und grossen Erwartungen, mitunter aber auch mit ein wenig Angst vor dem Neuen und Unbekannten, angekommen waren – es war ein heisser Augustnachmittag –, spielten Quinten und seine Kameraden vor ungewohntem Publikum in Poxleitners Garten. Über zwanzig junge Frauen waren zugegen und erfreuten sich der Musik und am ganzen Drumherum. Poxleitner, grosszügig wie immer, hatte sich die Festlichkeit einiges kosten lassen. Er liess in seinem Garten überall bunte Lampions aufhängen, die von Frau Sommer kurz vor der abendlichen Dämmerung angezündet wurden, und nahe am Ufer brannten ein paar Fackeln. Unter den schattenspendenden Bäumen liess er hölzerne Tische und Bänke aufstellen, und an den schönsten Plätzen nahe dem Wasser boten bequeme Liegestühle Gelegenheit, sich hinzufläzen und die herrliche Aussicht zu genies­sen. Er engagierte einen ansässigen Metzger, der sich um den Grill kümmerte, und Quinten ist es gelungen, eine der beiden Serviertöchter aus dem Schäfli zu überreden, an diesem Tag freizunehmen und sich um die Bedienung der Gäste zu kümmern. Quinten und seine Kameraden brachten alle ihre Kollegen mit, denn es war Poxleitner ein grosses Anliegen, dass die kleine Party keine reine Frauenangelegenheit würde. Also war das Verhältnis zwischen Mann und Frau ausgeglichen, und es bildeten sich schon bald etliche Pärchen, die sich dem Tanze hingaben und zu vorgerückter Stunde einander näherkamen. Alles in allem war es ein gelungener Anlass, an den sich alle gerne erinnerten.
Meine Mutter Stefanie und ihre beiden Kolleginnen, die auch in Poxleitners Haus eingezogen waren, gingen immer wieder mit anderen Mädchen nach drinnen, um ihnen ihre schmucken Zimmer zu zeigen. Einige kehrten voller Missgunst zurück. Nicht allen Einwanderinnen war es vergönnt, solch grosszügige Räumlichkeiten direkt am Wasser zu bewohnen. Die meisten mussten sich mit engen, spartanisch eingerichteten Zimmern begnügen. Aber in Gesellschaft der vielen jungen Männer aus der Gegend war die neidvolle Laune im Nu verschwunden, und die Mädchen fühlten sich alle ausgesprochen wohl, wurden sie doch ausnahmslos von den freienden Kerlen umgarnt, die sich alle an diesem Abend an einer für sie organisierten Brautschau wähnten. Ohne Zweifel wähnten sich bestimmt alle nach Einbruch der Dunkelheit an einem Ort, der beinahe märchenhaft war, mystisch illuminiert von unzähligen Lampions in allen Farben mit den unterschiedlichsten Motiven und ideal platzierten Gartenlaternen aus Holz und geschmiedetem Eisen, überspannt von einem Himmelszelt aus unendlich vielen Sternen. Alles machte einen sehr durchdachten Eindruck und zeugte von einer perfekten Choreografie. Der Rauch der Fackeln stieg wie Geistwesen empor, bevor ihn der kaum spürbare Wind über den See trug, wo er sich verflüchtigte. Drunten am Ufer, wo die Musik nur noch gedämpft zu hören war, gaben ein paar Frösche ihr monotones Ständchen, verborgen im dichten Röhricht hockend, quakten sie einander an, mit immer dem gleichen bescheidenen Wortlaut schienen sie sich in einer endlosen, langweiligen Diskussion verloren zu haben. Begleitet wurde das Quaken von ein paar Grillen, die sich, synkopisch zirpend, nicht um die Frösche kümmerten, sondern einzig darauf bedacht waren, durch ihren Gesang die Weibchen ihrer Gattung anzulocken. Dabei gaben sie Acht darauf, nur dann ihre Lockrufe auszustossen, wenn die Frösche damit beschäftigt waren, ihre Schallblasen erneut mit Luft zu füllen.
Meine Mutter Stefanie sass mit ein paar anderen Mädchen am See, sie tranken Bowle und unterhielten sich über die zahlreich anwesenden Junggesellen.
«Da sind ein paar ganz fesche Mannsbilder mit dabei», bemerkte Hermine und nippte an ihrem Glas.
Keine der anderen antwortete, nur die Frösche und Grillen gaben ihren unverständlichen Kommentar dazu.
«Soll ich mich an den süssen Akkordeonisten ranmachen?», fragte Hermine ihre Kolleginnen, ohne eine Antwort abzuwarten, «oder hat eine von euch schon ein Auge auf ihn geworfen?»
«Glaub mir Hermine, jedes der Mädchen hat ein Auge auf Quinten geworfen, und ganz besonders die Inge, die scharwenzelt schon den ganzen Abend um ihn herum.» Meine Mutter erhob sich von der Liege und trat ans Ufer heran. «Habt ihr seine Augen gesehen? Natürlich nicht, ihr getraut euch ja nicht, ihm in seine tiefgründigen Augen zu schauen. Der Blick eines Menschen verrät viel über dessen Charakter. Und Quintens Blick sagt mir unmissverständlich, dass er das, was er will, auch bekommt. Und dass er ganz genau weiss, was er will.»
Meine Mutter schaute auf das Wasser hinaus, das spiegelglatt wie eine Teflonpfanne vor ihr lag. Auch ihr ist der gut aussehende Quinten sofort aufgefallen.
«Was ist das überhaupt für ein Name – Quinten?», fragte Hermine.
«Das ist doch naheliegend», erwiderte Maria, ein sehr schlankes Mädchen, das ihr Haar als hochtoupierten Knoten ganz im Farah-Diba-Stil trug. «Quinten kommt von Quinte, einem fünf Tonstufen umspannenden Intervall in der Musik, und er ist ja wohl ein Musiker. Wenn du willst, dass dein Kind musikalisch werden soll, ist es bestimmt von Vorteil, wenn du ihm einen musikalischen Namen gibst.»
«Schmarren», insistierte Paula, «Quinten ist einfach nur das fünfte von weiss nicht wie vielen Kindern.»
«Ach hört doch auf», fuhr Hermine dazwischen, «Quinten ist bestimmt nur sein Künstlername, und er heisst in Wahrheit ganz anders.»
«Stimmt nicht, er heisst wirklich Quinten, und wenn ihr es nicht glaubt, dann fragt ihn doch. Oder fragt Herrn Poxleitner, der wird es euch bezeugen können.»
Meine Mutter machte es sich wieder auf einer der Liegen bequem und starrte in den blauschwarzen Himmel, wo sich immer mehr Sterne eingefunden hatten und so hell leuchteten, als wären sie eigens für diese Festlichkeit bestellt worden.
«Ein eigenartiger Kerl, dieser Poxleitner. Woher kennst du diesen alten Charmeur?», richtete Hermine ihre Frage an meine Mutter.
«Poxleitner ist ein alter Bekannter der Familie. Meine Grossmutter war über Jahre seine Wirtschafterin. Das war noch vor dem Krieg. Poxleitner ist Gentleman durch und durch. Er ist der grosszügigste Mensch, den es gibt. Meine Familie hat ihm wirklich viel zu verdanken.» Und während meine Mutter weiterhin in die Tiefen des Kosmos schaute, als würde sie nicht in die Vergangenheit, sondern in die Zukunft blicken, fügte sie noch folgende Worte hinzu: «Für einen Mann von Welt – und ein solcher ist Poxleitner hundertprozentig – ist das Universum nichts als ein Vorort.»
«Was redest du für einen Unsinn.» Hermine erhob sich, strich ihr blau- und grüngetupftes Petticoat-Kleid zurecht und fasste sich neckisch mit beiden Händen an den Busen und rückte auch diesen zurecht. Dann ordnete sie ihr Haar und sagte den Mädchen mit fröhlicher Stimme: «Lasst uns tanzen gehen.»
Alle bis auf meine Mutter Stefanie staksten kichernd über den perfekt geschnittenen Rasen zurück zu den andern. Sie lauschte noch ein bisschen dem Zwiegespräch zwischen Fröschen und Zikaden und dachte an ihren älteren Bruder Josef, der jetzt genauso nahe einem Gewässer war wie sie, wenn nicht noch viel näher. Oder besser gesagt, würde er vielmehr auf einem Gewässer sein, nur getrennt durch mehrere Schiffsdecke, umgeben von nichts als Wasser. Als Matrose fuhr er schon seit Jahren zur See. Seine Lehrjahre verbrachte er auf einem Donau­frachtschiff. Er schipperte den mächtigen Fluss hinauf und hinab und befuhr mitunter das Schwarze Meer, bevor er auf einem Frachter anheuerte, der vor allem Häfen rund um das Mittelmeer, am Atlantik und an der Nordsee ansteuerte. Die letzte Karte, die meine Mutter von ihrem Bruder erhalten hatte, stammte aus Alexandria. Die Vorletzte aus Hamburg. Seinem Wunsch, die Welt zu bereisen und alle Frauen der Welt zu lieben, kam er allmählich näher, auch wenn sich meine Mutter nicht wirklich vorstellen konnte, wie er alle Frauen der Welt lieben wollte. Dass Seeleute die Gewohnheit haben, sich in den angesteuerten Häfen mit billigen Huren zu verlustieren, wusste meine Mutter sehr wohl, aber was hat dieses unmoralische Gebaren mit Liebe zu tun? In ihren Augen gar nichts. Ihr Bruder gebrauchte diese Worte bestimmt nur als Metapher. Er war doch kein lüsterner Seebär, der in jedem Hafen eine Lieblingshure hatte. Nein, dafür kannte sie ihren Bruder zu gut.
Meinte sie zumindest. Josef war zwar kein eifriger Puffgänger, dafür aber ein recht erfolgreicher Heiratsschwindler. In nicht weniger als vier Städten hatte er eine Verlobte, denen allen er versprochen hatte, sie zu heiraten, obwohl er schon drei Ehefrauen hatte, eine in Wien, eine in Budapest und eine in Hamburg. Zugegeben, seine Gattinnen waren keine Schönheiten, aber sie waren alle recht wohlhabend. Und so störte es meinen Onkel Josef auch nicht, dass sie wesentlich älter waren als er. Sie wussten voneinander natürlich nichts, und eine jede war davon überzeugt, die einzige zu sein, der der gut aussehende Kapitän in seiner schneidigen Uniform die Aufwartung machte. Anstatt in die Freudenhäuser zu gehen wie seine Kollegen, schlüpfte Josef in die Kapitänsuniform, die er gestohlen hatte, und machte sich auf die Suche nach gutbetuchten, alleinstehenden Damen. Mit seinem Charme wickelte er die liebesbedürftigen Frauen um den kleinen Finger, machte sie sich schon bald gefügig und liess sich von ihnen aushalten. Er war überzeugt davon, dass es seine Berufung war, sich nicht nur um eine Frau zu kümmern, in einer Welt, in der es nur so wimmelte von einsamen Frauen, die sich nach ein bisschen Zuneigung und Aufmerksamkeit sehnten.
Jahrelang ging alles gut. Mein Onkel Josef schipperte von Ehefrau zu Ehefrau, von Verlobter zu Verlobter, gab sich als Kapitän aus und liess es sich gut gehen. Bis ihm die Behörden auf die Schliche kamen und er gezwungen war, unterzutauchen, sich zu verdünnisieren. Er fackelte nicht lange, sofortiges Handeln war angebracht und er meldete sich bei der Fremdenlegion. Er verpflichtete sich für die obligaten fünf Jahre als Zeitsoldat beim französischen Heer und erlebte gerade noch das Ende des Algerienkriegs, bevor er die restliche Zeit in Nimes in Südfrankreich mit dem Infanterieregiment, dem er angehörte, ableistete. Er lernte viele zwielichtige Gestalten kennen, die nur so vor krimineller Energie strotzten und eifrig Pläne schmiedeten für die Zeit nach der Fremdenlegion. Darum war es naheliegend, dass sich Josef mit einem Drogendealer anfreundete und beschloss, sich nach der abgeleisteten Zeit als Drogenkurier zu betätigen. Zunächst lief alles gut. Josef und einer seiner Dienstkollegen arbeiteten für besagten Dealer und brachten kiloweise harte Drogen von Frankreich nach Deutschland, Belgien, Holland und in die Schweiz. Bis sie eines Nachts von Grenzwächtern überrascht wurden. Auf der anschliessenden Flucht durch unwegsames Gelände wurde Josefs Kollege niedergeschossen, er selber konnte knapp entkommen. Er tauchte wieder unter. Er verschwand von der Bildfläche. Niemand wusste, wohin er sich verkrochen hatte. Auch meine Mutter nicht, die von alledem erst Jahre später erfahren sollte, nachdem sich ihr Bruder wieder bei ihr gemeldet hatte und sie um Geld anbettelte. Immer und immer wieder.
Von der unrühmlichen Zukunft ihres Bruders wusste meine Mutter in dem Moment, in dem sie, mit geschlossenen Augen an Josef denkend, auf der Liege in Poxleitners Garten am See lag, noch nichts, rein gar nichts. Im Gegenteil, voller Stolz stellte sie sich ihren Bruder vor, wie er auf einem mächtigen Schiff an der Reling stand und aufs Wasser hinausblickte. Ihre Vorstellungskraft erstaunte sie im einen Moment, und im anderen stand sie plötzlich neben ihrem Bruder an der Reling, atmete würzige Seeluft und konnte das Gekreische der Möwen hören, die das Schiff begleiteten. Sie schaute in den kitschigen Sonnenuntergang und vermeinte zu sehen, wie das Wasser am Horizont zu kochen begann, als die glühende Scheibe langsam in selbiges tauchte. Das Frachtschiff wurde nicht nur von Seemöwen begleitet, sondern auch von einer Schule Delphine, die pfeilschnell und elegant durch das Wasser schossen, als würden sie mit dem Kahn um die Wette schwimmen. Neben ihr stand ihr Bruder in Kapitänsmontur. Er machte eine wirklich gute Falle in der schicken Uniform, die ihm wie angegossen sass. Und um auch noch das letzte Klischee der Seefahrerei zu erfüllen, nahm Josef sein Fernrohr zur Hand und suchte den Horizont nach irgendwelchen Schiffen oder Inseln ab.
«Hältst du nach etwas Bestimmtem Ausschau», fragte ihn meine Mutter.
«Vielleicht nach der Insel der Glückseligen.»
«Und suchst du sie schon lange?»
«Nein. Noch nicht so lange. Und ich weiss, dass ich sie niemals finden werde.»
«Und warum suchst du dann nach ihr?»
«Weiss ich nicht. Aber nach irgendwas sucht doch jeder. Vielleicht ist die Suche wichtiger, als das zu finden, wonach man sucht.» Josef schob sein Fernrohr wieder zusammen und reichte es seinem ersten Offizier, der sich zu ihnen an die Reling gesellt hatte. «Was hast du auf meinem Schiff verloren, Schwesterchen? Ich kann mich nicht erinnern, dich an Bord geholt zu haben.» Josef blickte meiner Mutter eindringlich in die Augen.
«Wie genau ich hierher gekommen bin, weiss ich nicht. Ich habe nur die Augen geschlossen und fest an dich gedacht.»
«Und weil du mich in deiner Vorstellung gerne als Kapitän eines Schiffs siehst, bin ich zu einem geworden. Du weisst so gut wie ich, dass ich in der Realität nur ein gewöhnlicher Seemann bin, der die Welt bereisen möchte.»
«Und alle Frauen lieben will», ergänzte meine Mutter.
Bei diesen Worten überkam meinen Onkel ein Anflug von schlechtem Gewissen und er sagte meiner Mutter, dass er daran arbeite, aber sie diese Redensart nicht allzu ernst nehmen solle. Das sei lediglich eine Metapher.
«Du hast auf diesem Schiff nichts verloren, Stefanie. Ich will, dass du deine Augen wieder schliesst und dorthin zurückkehrst, wo du hergekommen bist. Soviel ich weiss, solltest du in der Schweiz sein.»
Nach diesen Worten wandte sich Josef von seiner Schwester ab und entfernte sich. Meine Mutter schloss die Augen. Deutlich hörte sie das Stampfen der Schiffsmotoren und die Wellen, die an den Bug klatschten. Sie hörte die Möwen, deren hysterisches Kreischen allmählich an Intensität einbüsste, und sie hörte das Quaken der Frösche und das Zirpen der Grillen. Und dann hörte sie die gedämpfte Musik von Quinten und seinen Kollegen. Als sie die Augen öffnete, lag sie wieder auf der Liege und schaute in die Tiefen des Kosmos. Sie konnte das Salz des Meeres immer noch riechen.
«Nah, sind wir ein bisschen eingenickt?»
Wenige Meter hinter ihr schälte sich Poxleitner schemenhaft aus dem Dunkel und trat an sie heran.
«Ach, Herr Poxleitner», erwiderte meine Mutter, «mir ist der ungewohnte Alkohol zu Kopf gestiegen. Ich muss wirklich kurz eingenickt sein.»
«Wie dem auch sei, liebe Stefanie. Ich schlage vor, dass sie mit mir zurückkommen und etwas essen.»
«Da haben Sie wohl recht, mein Lieber, ich sollte nicht nur trinken, sondern auch mal etwas essen.»
Meine Mutter erhob sich und hakte sich bei Herrn Poxleitner unter. Die Frösche machten munter weiter mit ihrer feuchten Sinfonie, immer noch synkopisch untermalt vom Zikadengesang. Poxleitner begleitete meine Mutter zum Salatbuffet und erlaubte sich, ihr einen Teller zusammenzustellen. Am Grill entschied sie sich für ein Steak, nicht zu fest durchgebraten, aber auch nicht zu wenig, und auf keinen Fall noch blutig. Dann setzten sich die beiden unter einer der Platanen an einen freien Tisch.
«Herr Poxleitner, als ich vorhin für wenige Minuten eingenickt bin, fand ich mich bei meinem Bruder Josef auf dem Frachtschiff wieder, auf dem er zurzeit als Matrose arbeitet und das Mittelmeer durchschifft. Nur war er in diesem Fall nicht ein gewöhnlicher Matrose, sondern der Kapitän. Dieser kurze Traum fühlte sich derart wirklich an, dass ich jetzt noch das Salz des Meeres in der Nase habe, und ich frage mich, ob dieses intensive Empfinden etwas zu bedeuten hat.»
Meine Mutter blickte Poxleitner Antwort heischend in die Augen und führte zaghaft ihre Gabel zum Mund.
«Eigenartig, meine Liebe, auch mir widerfahren in letzter Zeit Träume, die sich mitunter wirklicher anfühlen als die Realität. Zuweilen habe ich das Gefühl, dass sich Wirklichkeit und Traum vermischen und ich im Nachhinein die starke Empfindung verspüre, das eine nicht mehr vom andern unterscheiden zu können. Bisweilen überkam mich sogar das Gefühl, langsam verrückt zu werden. Aber das sind bestimmt nur die Ängste eines alternden Mannes.»
Poxleitner führte sein Weinglas an den Mund und nahm einen herzhaften Schluck.
«Da mir nun Ähnliches widerfahren ist, hat es bestimmt nichts mit dem Alter zu tun», argumentierte meine Mutter, während sie mit der Gabel lustlos im Salat herumstocherte.
«Schmeckt es dir nicht, oder hast du einfach keinen Appetit?»
«Doch, doch, doch, es schmeckt ausgezeichnet. Aber ich bin immer noch etwas verwirrt ob dieses Traums, der sich gar nicht wie ein Traum angefühlt hat.»
«Wie dem auch sei, vielleicht sollten wir nicht zu viel darüber nachdenken und einfach nur die Festlichkeit geniessen, so wie die andern.»
Poxleitner blickte lächelnd durch meine Mutter hindurch, als ob sie gar nicht da wäre, und fügte mit gedämpfter Stimme hinzu, dass dem Menschen das Träumen noch nie geschadet habe.
«Bestimmt haben sie recht, mein lieber Herr Poxleitner. Machen wir uns nicht zu viele Gedanken darüber.»
Während meine Mutter sich reichlich Zeit liess, den Salat und das Steak zu verzehren, machte sich bei vielen der Anwesenden der Alkohol bemerkbar. Die Stimmung wurde zusehends lockerer und die Junggesellen verloren allmählich ihre Hemmungen. Die Mädchen gerieten ob des plötzlichen Draufgängertums der betrunkenen Kerle arg in Verlegenheit, genossen es aber ungemein, von den Burschen umgarnt zu werden, auch wenn ihr Werben plump und stümperhaft war. Gelassen beobachtete Quinten das Geschehen. Natürlich wusste er um seine Wirkung auf Frauen. Nichts entging ihm. Unablässig beobachtete er die Mädchen, wie sie ihre Schüchternheit ablegten und ihn zuweilen mit verlegenen Blicken bedachten. Und er genoss es. Das unbeholfene Werben seiner betrunkenen Kollegen amüsierte ihn, und er musste mitunter lächeln, wenn einer der aufdringlichen Freier von den Mädchen kichernd abgewiesen wurde. Während er seinen Blick über das Geschehen schweifen liess, bemerkte er meine Mutter Stefanie und Herrn Poxleitner, wie sie unter einer hochgewachsenen Platane ein angeregtes Gespräch führten. Ihm war natürlich schon früh am Nachmittag aufgefallen, dass meine Mutter die einzige war, die kein Kleid trug. Sie trug eine blau-weiss gestreifte, wadenlange Fischerhose, wie sie Audrey Hepburn im Film Sabrina zu tragen pflegt. Dazu eine ärmellose, ultramarinblaue Bluse aus knitterfreiem Perlon und bequeme Ballerinaschuhe. Die Fischerhose war sehr figurbetonend und unterhalb der Knie so eng, dass jedes Hosenbein seitlich geschlitzt war. Das Haar trug sie nicht wie viele ihrer Freundinnen hochgesteckt, dafür war es schlichtweg zu lang. Offen fiel es ihr leichtgewellt bis auf den Hintern. Sie hatte kräftiges, schnell wachsendes braunes Haar wie ihre Mutter, das sie an diesem Tag zu zwei neckischen Zöpfen geflochten hatte, was ihr ein schulmädchenhaftes Aussehen verlieh, gewürzt mit einem Hauch von Schalk. Überhaupt kam sie ganz nach ihrer Mutter, ein optisches Ebenbild, ein charakterlicher Klon, eine jüngere Ausführung Christinas.
Christina liess ihre einzige Tochter nur ungern ziehen. Aber in Anbetracht der schlechten Arbeitsmarktlage hiess sie ihren Entschluss gut. Nachdem schon ihr Ältester berufsbedingt ausgezogen war, blieben ihr jetzt noch Stefan und ihr Jüngster, Onkel Rudi. Im Gegensatz zu ihrem älteren Bruder Josef, der sich ein Leben lang hehre Ziele gesetzt und, um diese zu erreichen, einen anständigen Beruf erlernt hatte und diesen pflichtbewusst auszuführen bestrebt war, hatten sich die beiden Jüngeren zu wackeren Rabauken gemausert, die vorlaut durchs Leben schritten und keine Gelegenheit ausliessen, irgendwelchen Unsinn anzustellen. Natürlich wusste sie von Josefs Machenschaften noch nichts zu jener Zeit. Erst Jahre später, als Josef in Algerien stationiert war, erfuhr sie in einem Brief von ihm die wahren Gründe, warum er ohne sich zu verabschieden verschwunden war und sich bei der Fremdenlegion gemeldet hatte. Sie traute ihren Augen nicht, als sie seine Zeilen las, musste sich aber schon bald eingestehen, dass es zu jeder Zeit absehbar war, dass ihr Sohn auf die schiefe Bahn geraten würde, zu deutlich waren die Anzeichen. Josefs Brüder hatten zwar nicht den Hang zur Kriminalität, neigten aber durchaus zu unmoralischem Handeln, das aber zu keiner Zeit irgendjemandem ernsthaften Schaden zugefügt hätte.
Meine Mutter hatte schon als vierzehnjähriges Mädchen eine Lehrstelle in Mariazell angetreten. Bevor sie die Hauswirtschaftsschule in Graz besuchte, kümmerte sie sich hingebungsvoll um den Haushalt und die Kinder eines angesehenen Coiffeurs. Leider neigte der Friseur schon bald dazu, sich ebenso hingebungsvoll um seine aparte Hauswirtschaftslehrtochter kümmern zu wollen. Nur hatte er nicht mit dem Temperament meiner Mutter gerechnet, welche keine Sekunde zögerte, den präpotenten Haarschneider von seinem Begehren abzuhalten, indem sie ihn mit Ohrfeigen traktierte und ihm lauthals drohte, seiner einfältigen Gemahlin von seiner Aufdringlichkeit ihr gegenüber zu berichten. Der Bartscherer, der kein Dummkopf war, erkannte schon bald, dass meine Mutter nicht rumzukriegen war, und begnügte sich in der Folge damit, sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit mit ordinären Sprüchen anzumachen und mit lüsternen Blicken zu verzehren. Nach zwei Jahren hatte meine Mutter genug. Sie trat in Graz in die Hauswirtschaftsschule ein und schon ein Jahr später bot sich ihr die Gelegenheit, sich um den Haushalt eines Professors zu kümmern. Der Professor hatte seine Libido im Griff, dafür litt seine gramerfüllte Gattin an krankhafter Sparsamkeit, was meine Mutter schon bald dadurch zu spüren bekam, dass sie nicht nur beinahe unterernährt war, sondern auch noch blutkrank wurde. Jetzt hatte ihre Mutter Christina genug und holte ihre Tochter unverzüglich zurück nach Kirchberg, wo sie wieder zu Kräften kam und neue Pläne für die Zukunft schmiedete.
Dass sie schliesslich in die Schweiz auswandern konnte, hatte sie unter anderem dem Siegelfranz zu verdanken, ihrer grossen Jugendliebe. Der Siegelfranz war schon ein paar Jahre vorher in das kleine Nachbarland ausgewandert. Sie schrieben einander fleissig Briefe, in denen der Siegelfranz immer wieder betonte, wie toll die Schweiz sei und sie nicht länger zögern solle, es ihm gleichzutun und Österreich zu verlassen. Obwohl der Siegelfranz inzwischen geheiratet hatte, verhalf er meiner Mutter zu einer Arbeitsstelle in der Schweiz. Es war nur Ausreisewilligen gestattet, die Heimat zu verlassen, wenn sie vor der Ausreise eine Arbeitsstelle im Zielland vorweisen konnten. Dank der Unterstützung des Siegelfranz und dem grosszügigen Angebot von Herrn Poxleitner verliess meine Mutter ihre Heimat als aufgeweckte Achtzehnjährige und trat eine Stelle in der Stickerei Lendenmann in Wald im schönen Appenzellerland an, welche zu jener Zeit viele junge Österreicherinnen einstellte, nicht nur weil sie ihr Handwerk hervorragend verstanden, sondern vor allem auch deshalb, weil sie billigere Arbeitskräfte waren als die Schweizerinnen. Bis zum Jahr 1950 bestand die Bevölkerung von Wald vorwiegend aus Familien von Stickereibauern. Weil die meist kleinen Höfe nicht zum Leben ausreichten, verdienten sich die Leute mit der Handstickerei etwas dazu. Das änderte sich schlagartig, als sich ab 1950 eine Krise in der Handstickerei abzeichnete, nicht zuletzt vor allem deswegen, weil in den neu gegründeten Stickereien maschinell viel schneller und billiger produziert werden konnte. In der Folge sahen sich viele der Stickereibauern gezwungen, ihre Maschinen zu verkaufen und ihre landwirtschaftlichen Heimwesen zu verlassen. Das kümmerte meine Mutter wenig und sie war heilfroh, endlich eine Arbeit gefunden zu haben.
Als meine Mutter zu vorgerückter Stunde zu frösteln begann, ging sie ins Haus hinauf in den dritten Stock, um ihre ärmellose Bluse gegen eine identische, langärmelige auszuwechseln und sich einen passenden Wickelrock umzulegen, den sie selber nach einem Schnittmuster aus burda Moden geschneidert hatte. Mit dem frischen Ensemble mutierte sie von einem halbstarken Backfisch zu einer durchaus gesellschaftsfähigen jungen Frau. Aus einem der Zimmer nebenan hörte sie Gekicher und andere Geräusche. Sie lauschte ein paar Sekunden an der Tür, bevor sie wieder nach unten ging. Als sie in ihren Ballerinaschuhen leichtfüssig wie eine Tänzerin durch das Entrée hüpfte und sich einmal um die eigene Achse drehte wie ein tanzender Derwisch, stand sie plötzlich vor Quinten, der ihr galant die Hand zum Tanze reichte. Ohne zu zögern, nahm sie seine Hand, schaute ihm keck in die dunklen Augen und liess sich von ihm gekonnt zur gedämpften Musik führen. Quinten hatte eine Pause einlegen müssen, um sich auf der Retirade zu erleichtern. Dass er auf dem Rückweg meine Mutter antraf, kam ihm sehr zupass, wollte er es doch an diesem heiteren Abend auf keinen Fall versäumen, mit meiner Mutter mindestens ein Tänzchen zu schwingen und ein paar Worte mit ihr zu wechseln. Ihm war während des Abends aufgefallen, dass sie keinerlei Anstalten machte, ihm in irgendwelcher Form näherzukommen, oder ihn wenigstens anzusprechen. Zudem versuchte sie nicht ein einziges Mal, mit ihm in Augenkontakt zu treten. Entweder zeigte sie tatsächlich keinerlei Aspiration für ihn oder sie war so durchtrieben, gerade durch ihr Desinteresse gegenüber ihm sein Interesse gegenüber ihr zu wecken. Auf jeden Fall schien ihre Rechnung aufzugehen, und sie tanzte mit Quinten wie Fred Astair und Ginger Rogers über den schwarz-weiss gefliesten Boden durch das Entrée. Beschwingt tanzten sie im Kreis, schauten einander tief in die Augen und hielten es im Moment nicht für nötig, irgendwelche Konversation zu führen. Allmählich verringerte sich der Abstand zwischen den beiden Tanzenden und meine Mutter konnte Quintens Erektion spüren. Als sie seinen warmen Atem und schliesslich seine Lippen auf ihrem Hals spürte, wand sie sich geschmeidig aus seiner Umarmung und fauchte ihn an wie ein kleines Kätzchen. Dann ging sie wieder nach draussen und Quinten schaute ihr verständnislos nach.
«Wo hast du so lange gesteckt?», fragte Inge meine Mutter.
«Ich habe mir nur was Wärmeres übergezogen und einen aufdringlichen Freier auflaufen lassen», erwiderte meine Mutter.
«Ach Stefanie, ich habe hier schon etlichen Kerlen den Weisel gegeben und versuche immer noch, Quintens Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Aber er scheint mich zu ignorieren. Kannst du dir das vorstellen? Der Kerl scheint kein Interesse für mich zu zeigen.»
Empört klagte Inge meiner Mutter ihr Leid. Inge war das Mädchen mit dem meisten Sex-Appeal an diesem Abend. Offenherzig präsentierte sie ihr eindrückliches Dekolleté und wackelte anzüglich mit ihrem knackigen Hintern. Sie war es gewohnt, sich nicht anstrengen zu müssen, um die Aufmerksamkeit der Männer auf sich zu ziehen. Dass gerade das Objekt ihrer Begierde keinerlei Anstalten machte, sie zu freien, liess Zweifel bei ihr aufkommen, was ihre Wirkung auf das starke Geschlecht betraf.
«Wie ich schon gesagt habe, Quinten weiss, was er will, und anscheinend entsprichst du nicht dem Beuteschema, das er heute an den Tag legt.»
Meine Mutter lächelte Inge vergnügt an und griff sich eine Frucht aus der Schale am Buffet.
«Ich habe noch ins Beuteschema eines jeden Mannes gepasst, das kannst du mir glauben.»
Inge fasste sich als Selbstbestätigung ihrer Aussage erst an den üppigen Busen, dann an ihren Hintern, als wollte sie damit meiner Mutter zeigen, dass es keine überzeugenderen Argumente gibt als ihre Kurven, bei deren Anblick jeder gesunde Mann in Wallung geraten muss.
«Wenn das so ist, dann geh und kümmere dich um Quinten. Er kann im Moment ein wenig Trost gebrauchen.»
«Warum sollte Quinten Trost gebrauchen?»
«Vielleicht, weil ihm jemand eine Abfuhr erteilt hat.»
Meine Mutter lächelte verschmitzt, während sie sich wieder zu ihren Freundinnen gesellte und gerade noch hören konnte, wie ihr Inge folgende Worte hinterherrief: «Willst du damit sagen, dass es Quinten war, den du hast auflaufen lassen? Das ist ja nicht zu fassen.»
Für kurze Zeit verstand Inge die Welt nicht mehr. Dass man einem Kerl wie Quinten einen Korb geben kann, konnte sie überhaupt nicht verstehen. Und dass ein Kerl wie Quinten sich für meine Mutter zu interessieren schien und nicht für sie, konnte sie noch weniger verstehen. Sie, der wahr gewordene Traum aller Männer – so dachte zumindest sie –, würde jetzt dafür sorgen, dass Quinten doch noch auf seine Kosten käme.
«Jawohl, wollen doch mal sehen, ob ihn meine Argumente nicht überzeugen», dachte Inge, während sie, heftig mit ihrem Hintern wackelnd, über den Kiesplatz stakste und sich den Musikern näherte wie eine Gewitterfront, die sich bald entladen wird. Mit durchgedrücktem Kreuz stellte sie sich vor Quinten und seine Kollegen und gab ihm durch entsprechende Mimik und körperliches Gebaren unmissverständlich zu verstehen, dass sie mit ihm tanzen wollte, und zwar sofort. Quinten, in Gedanken immer noch bei meiner Mutter, blickte zunächst in Inges Augen, dann auf ihren Busen, schliesslich auf den ganzen Rest und dann wieder in ihre Augen, und während er sich von dieser geballten Ladung Weiblichkeit betören liess, verblasste das Bild meiner Mutter in seinem Kopf und er gab seinen Musikerkollegen zu verstehen, dass sie ohne ihn weiterspielen sollten.
«Nun seht euch die Inge an», forderte Hermine ihre Freundinnen auf, «die macht gerade diesen Quinten klar.»
«Ihren Reizen hat noch keiner widerstehen können», sagte Maria.
«Das kannst du laut sagen. Mit ihren Reizen weiss sie wahrlich umzugehen.»
Die Mädchen beobachteten ihre Kollegin, wie sie sich gerade an Quinten schmiegte wie eine Katze, die liebkost werden will. Sie rieb ihren prallen Busen an Quintens Brust, dass ihm komisch wurde und er ein Zucken in der Leistengegend verspürte.
«Jetzt will sie es aber wissen», sagte Hermine.
«Fragt sich, ob es Quinten auch wissen will.»
Langsam begann meine Mutter zu bedauern, dass sie ihn abgewiesen hatte.
«Anscheinend soll er ja ganz genau wissen, was er will.»
«Wenn man das, was man will, nicht gleich bekommt, nimmt man sich halt das, was man eigentlich nicht will. Man gibt sich sozusagen mit der zweiten Wahl zufrieden.»
«Immer noch  besser, als gar nichts abzukriegen», bemerkte Maria mit spitzer Zunge.
Die Mädchen beobachteten das Geschehen aufmerksam und kommentierten es zuweilen mit Aussagen, denen es weder an Biss noch an Witz fehlte. Ab und an wagte sich einer der betrunkenen Kerle an die Mädchen heranzutreten und die eine oder andere zum Tanze aufzufordern. Meine Mutter, der im Moment gar nicht nach Tanzen zumute war, lehnte die Aufforderungen kategorisch ab. Auch sie beobachtete aufmerksam, wie sich ihre Freundin Inge Quinten um den kleinen Finger wickelte, wie sie ihn langsam gefügig machte, wie sie sich seine Liebkosungen gefallen liess, und sie kam zu dem unangenehmen Schluss, dass die beiden wohl zusammen nach Hause gehen würden.
Auf einmal hatte sie genug gesehen und begab sich erneut ins Haus, wo sie Herrn Poxleitner in der Bibliothek sitzen fand.
«Hallo Stefanie, ich hoffe, es läuft alles zu deiner Zufriedenheit?»
Poxleitner erhob sich aus seinem Sessel und hiess meine Mutter, sich doch hinzusetzen, bevor er selber wieder Platz nahm.
«Wenn immer alles den Lauf nehmen würde, den man erwartet, wäre das Leben bestimmt weniger aufregend.»
Meine Mutter liess den Blick über die Bücherregale schweifen.
«Da hast du recht. Nichts ist vorherbestimmt. Das Leben macht mitunter Kapriolen, die einen in Erstaunen versetzen, die einem Schmerz zufügen, einen erfreuen und die für Überraschungen sorgen, mit denen man auf keinen Fall gerechnet hat. Man muss das Leben so nehmen, wie es kommt, mit all seinen Hürden und Rückschlägen, die unvermeidbar sind. Man muss Geduld mit seinem Schicksal haben, dann fällt es einem leichter, es zu akzeptieren. – Magst du Bücher? Falls ja, steht dir meine Bibliothek jederzeit zur Verfügung. So wie du mir jetzt gegenüber sitzt, erinnerst du mich an deinen Onkel Leopold. In Wien sassen wir jeweilen viele Stunden zusammen in der Bibliothek und unterhielten uns über Gott und die Welt. Dein Onkel hatte schlimme Zeiten erlebt. Bei ihm zeichnete sich allmählich eine radikale Ablehnung gegenüber beinahe allem ab. Für ihn war vieles sinnlos und umsonst. Er urteilte über die Welt, wie sie ist, dass sie so nicht sein sollte, und über die Welt, wie sie sein sollte, urteilte er, dass sie nicht existiert und niemals existieren wird.» Poxleitner griff sich sein Weinglas, führte es langsam zum Mund und nippte daran. «Dass du mit Quinten im Entrée getanzt hast, habe ich mitbekommen. Ich sass hier im Dunkeln in diesem Sessel und konnte euch beobachten. Ihr gebt ein schönes Paar ab. Solltest du nicht draussen sein und dich mit ihm unterhalten oder mit ihm tanzen?»
«Vielleicht sollte ich das. Aber das Schicksal meint es wohl anders. Die Inge hat sich ihm an den Hals geworfen wie ein billiges Flittchen. Und Quinten mimt in diesem Lustspiel den Freier, der Inges Reizen nicht widerstehen kann.»
«Dieses Techtelmechtel wird nicht lange dauern. Zugegeben, die Inge zeigt schon was her, aber sie ist nicht die Frau, die einen Mann halten kann. Und aus­serdem wird ihr ein Mann nie genügen. Sie wird wohl wissen, dass das Herz des Vergnügens die Abwechslung ist.»
Poxleitner nippte erneut an seinem Glas und stellte es zurück auf den Tisch.
«Sie scheinen eine gute Menschenkenntnis zu haben.» Meine Mutter erhob sich aus ihrem Sessel und schritt langsam durch die Bibliothek. «Natürlich liebe ich Bücher. Und ich werde gerne Gebrauch von ihrem Angebot machen.»
Vor dem Schreibtisch blieb sie stehen und fuhr mit der Hand sanft über die Mappe mit Leopolds Manuskript.
«Das ist eines der Manuskripte von deinem Onkel Leopold. Deine Grossmutter hat mir auf dem Sterbebett mit letzter Kraft sämtliche Manuskripte ihres verschwundenen Sohnes gegeben. Angeblich auf seinen Wunsch hin. Er würde sich bestimmt freuen, wenn du sie dereinst lesen wirst.»
«Das werde ich bestimmt tun.»
Meine Mutter setzte sich wieder und schwieg.
«Ist es nicht schön, einfach hier zu sitzen und zu denken, dass es schön ist, einfach hier zu sitzen?» Ohne eine Antwort zu erwarten, sass Poxleitner mit geschlossenen Augen im Sessel. Er lächelte zufrieden. «Gefällt dir die Arbeit bei Lendenmann?»
«Ja, die Arbeit ist streng, aber in Ordnung. Wir werden gut behandelt.»
«Schön, das freut mich.» Poxleitner erhob sich und sagte meiner Mutter, dass es Zeit für ihn sei. «Ich werde nochmals nach draussen gehen und mich von den Gästen verabschieden. Es war ein anstrengender Tag.»
Bedächtigen Schrittes verliess er die Bibliothek und gelangte durch den Salon in den Garten. Einige der Mädchen und Jungen waren verschwunden. Und auch der Metzger und die Serviertochter aus dem Schäfli waren schon weg. Die Übrigen bedienten sich selber. Ein paar wenige Unermüdliche wiegten sich noch im Tanze, die meisten sassen an den Tischen und unterhielten sich über unwichtige Dinge. Und auf den Liegen unten am See, wo die Frösche quakten und die Grillen zirpten, lagen eng umschlungen drei Pärchen und knutschten heftig miteinander. Frau Sommer war damit beschäftigt, leere Gläser und Teller abzuräumen.
Meine Mutter verspürte plötzlich keine Lust mehr, sich nochmals unter die Leute zu mischen und beschloss, nach oben in ihr Zimmer zu gehen. Ein letzter Blick nach draussen zeigte ihr, wie die Inge zu Füssen Quintens am Boden hockte und ihn anhimmelte wie Maria Magdalena ihren Jesus, wenn dieser zu ihr und seinen Jüngern sprach. Meine Mutter schürzte für einen kurzen Moment die Lippen und ging nach oben.
Herr Poxleitner hatte recht. Das Techtelmechtel zwischen Inge und Quinten dauerte nicht lange. Man sah die beiden einige Male zusammen, wie sie auf Quintens Jawa 350 durch die Gegend brausten, oder in einer der vielen Dorfbeizen in der Umgebung, wo Quinten musizierte und Inge ihn mit Argusaugen beobachtete. So überstürzt ihre Beziehung begonnen hatte, so schnell war sie wieder vorbei. Quinten konnte mit der hingebungsvollen, unterwürfigen und besitzergreifenden Inge schon bald nichts mehr anfangen und gab ihr trotz ihrer überzeugenden Argumente den Laufpass. Sie war ihm zu langweilig, zu oberflächlich, zu ungebildet, zu eifersüchtig.
Die Mädchen, die bei Lendenmann arbeiteten, hielten zusammen wie Pech und Schwefel. Auch Inge, die sich während ihrer kurzen Liaison mit Quinten etwas abgesondert hatte, war jetzt wieder Teil der Mädchenclique. Sie zogen an den Wochenenden durch die Dörfer, verdrehten den jungen Kerlen die Köpfe und sorgten in den Beizen für ausgelassene Stimmung. Besonders meine Mutter war eine fröhliche Natur, die mit ihrer aufgeweckten Art die Aufmerksamkeit vieler auf sich zog. Sie hatte sich inzwischen die Haare schneiden lassen, wodurch sie etwas älter schien. Auch bei Quinten erwachte das Interesse an meiner Mutter erneut. Ihm gefiel vor allem die natürliche Art an ihr, ihre Unverfrorenheit, die sie zuweilen an den Tag legte, und ihr Sinn für Humor. Er begann sie wieder zu umgarnen, wenn sie einander in einer Beiz trafen. Sie tanzten immer häufiger zusammen. In ihrer Freizeit unternahmen sie Ausflüge mit Quintens Motorrad oder mit dem Auto, das sie sich von Kollegen ausliehen, oder sie gingen am See spazieren. Jedesmal, wenn Poxleitner die beiden zusammen sah, musste er lächeln und war sich sicher, dass sich hier zwei gefunden hatten, die für einander geschaffen waren. Und Poxleitner hatte natürlich wieder recht. Die beiden sollten schon im Jahr 1959 heiraten, kurz bevor mein älterer Bruder zur Welt kam.