Fürchtegott Wendehals


Auszug aus dem dreissigstes Kapitel
Fürchtegott Wendehals


Fürchtegott Wendehals war der skurrilste Gast, den wir je beherbergten. Er wohnte über Monate im Hotel, das meine Eltern gepachtet hatten. Ein Langzeitgast, der keinen grossen Wert auf Komfort und Luxus legte. Denn an beidem mangelte es bei uns zuhauf. Aber aus irgendwelchen Gründen hatte er den Narren gefressen am Hotel und an der Gegend, an den Talbewohnern, ihren Sitten und Bräuchen, und nicht zuletzt an uns. Schon beim ersten Mal, als ich ihm im Treppenhaus begegnete, wusste ich sofort, dass Fürchtegott Wendehals kein normaler Mensch ist. Er wollte gerade seine beiden Vögel spazieren führen, die er auf seinen Reisen immer bei sich hatte. Er führte sie natürlich nicht an der Leine wie einen Hund, nein nein, er trug sie mitsamt dem Käfig durch die Gegend, jeden Tag und bei jedem Wetter. Bei den beiden Piepmatzen handelte es sich um zwei Spechte, wie uns Fürchtegott später erzählte. Er trug die beiden in einem runden, kunstvoll geflochtenen Bambuskäfig, den er während einer Reise durch China eigens für sich hatte anfertigen lassen, spazieren, bis er an einem geeigneten Ort innehielt und die Vögel fliegen liess. Was er uns damals nicht erzählte, war die Tatsache, dass er mit seinen beiden Spechten jeweils mitflog. Und hätte er es uns oder jemand anderem erzählt, hätte es ihm sowieso keiner geglaubt.
Fürchtegott Wendehals war undefinierbaren Alters, laut eigenen Worten emeritierter Professor, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, das Leben zu geniessen, indem er vor allem reiste. Und weil Fürchtegott wusste, dass es sich niemals lohnt, zwischen zwei Punkten immer den kürzesten Weg zu gehen, wie es vor allem Erfolgsmenschen zu tun belieben, war er nicht nur froh um jeden Umweg, sondern gelangte allmählich bewusst auf Umwegen zum Ziel, wenn er denn überhaupt ein Ziel hatte. (Einmal hörte ich ihn sagen, dass es überhaupt nicht nötig ist, Ziele zu haben, weil man immer schon am Ziel ist.) Wie sonst hätte es einen Reisenden an solch einen Ort verschlagen können, als auf einem Umweg. Auf jeden Fall wusste Fürchtegott Wendehals ausserdem, dass der Mensch Umwege gehen muss, um Erfahrungen zu sammeln. Und wer seinen Horizont ständig erweitern will, kann sowieso kein Ziel vor Augen haben, der geht seinen Weg von alleine und vertraut der Karte des Gespürs. Für Fürchtegott war und ist laut eigenen Worten seine Intuition der innere Kompass, der ihm zu jeder Zeit und in jeder Situation die richtige Richtung weist.
Dass sein innerer Kompass ihn ans Ende eines Tals geführt hatte, mag schon stimmen. Trotzdem konnte ich es nicht recht glauben. Für mich stand von Beginn weg fest, dass es noch andere Gründe gab, die Fürchtegott Wendehals zu uns gelangen liessen. Wie dem auch sei, er war mir so oder so von Anfang an sehr sympathisch, mit all seinen Macken und sonderbaren Betrachtungen, die er über Dinge und Begebenheiten anstellte, für die ein normaler Mensch keine Gedanken verschwendet, geschweige denn Betrachtungen anstellt. Bisweilen hatte ich das Gefühl, dass er nicht von dieser Welt ist. Aber dieses Gefühl hatte ich auch schon bei anderen Menschen, weswegen ich diesen Verdacht nicht allzu schwer gewichtete.
Fürchtegott Wendehals bezog nach seiner Ankunft ein Zimmer im obersten Stock, das einzige, das über einen kleinen Balkon verfügte, der wie ein Fremdkörper aus der Westfassade kragte. Es war ein kleines Zimmer, aber das war Fürchtegott egal, er brauchte nicht mehr als ein Bett zum Schlafen und einen Stuhl zum Sitzen. Dass er in seinem Zimmer zusätzlich über einen kleinen alten Sekretär verfügte, wusste er zu schätzen, hätte aber ebenso gut auf ihn verzichten können. Er stapelte seine wenigen Bücher, die er bei sich hatte, auf der schieferfarbenen Schreibplatte des Sekretärs sorgfältig aufeinander. Seinen Koffer verstaute er auf dem zweitürigen Kleiderschrank, den er ansonsten nicht benutzte, weil er auf seinen Reisen zu keiner Zeit mehr Kleider dabeizuhaben schien als diejenigen, die er gerade am Leibe trug. Zugegeben, dieser Umstand mutete etwas befremdend an, aber meine Mutter versicherte mir immer wieder, dass es nur eine von Fürchtegott Wendehals’ Macken sei und er ihr schon hundertmal versichert habe, dass er seine übrigen Kleider in der örtlichen Reinigung liess und sich jeweilen vor Ort umkleide, wenn ihm danach zumute war, und die getragenen Klamotten zum Waschen daliess. Ich glaubte ihr kein Wort und stellte entsprechende Nachforschungen an. Und als man mir auf der Reinigung versicherte, einen Touristen namens Fürchtegott Wendehals weder zu kennen, geschweige denn zu ihren Kunden zählen zu können, beschloss ich, fürderhin niemandem etwas von meinen Ermittlungen zu erzählen. Und als ich eines Tages Fürchtegott Wendehals fragte, ob ich ihn zur Reinigung begleiten dürfe, blickte er mich mit brennenden Augen an und sagte mir, dass ich ihn überall hin begleiten könne, aber nicht zur Reinigung, das lohne sich nicht für mich und sei reine Zeitverschwendung. Ich starrte ihm ungläubig in die Augen und vermeinte zu sehen, wie sich der Feuersturm in seinen Augen beruhigte.
«Sind Sie ein Magier?», fragte ich ihn eines Tages, nachdem er wieder mal wie aus dem Ei gepellt nach unten ins Restaurant gekommen war und sich an seinen Lieblingstisch am Fenster gesetzt hatte.
«Nein Rupert, ich bin bei Gott kein Illusionist. Ich bin nur ein alter Wandervogel.»
Er lächelte mich an und zeigte mir sein makelloses Gebiss. Dann bestellte er bei meiner Mutter ein nicht zu kaltes Bier und wollte wissen, was es heute zu Mittag gäbe.
«Heute haben wir eine Hühnersuppe, Schweinskotelett, Bratkartoffeln und dreierlei Gemüse – und zum Dessert eine Crème brulée.»
«Wunderbar. Das klingt köstlich.»
«Waren Sie heute schon auf der Reinigung?», wagte ich zu fragen, bekam aber nicht von Fürchtegott eine Antwort, sondern von meiner Mutter, die mir nahelegte, unseren Gast nicht mit dämlichen Fragen zu belästigen und hiess mich, nach unten in die Küche zu gehen und meinem Vater mitzuteilen, dass er langsam in die Gänge kommen soll.
Die Küche lag im Untergeschoss. Quinten hantierte mit grossen Töpfen und Pfannen herum. Ich teilte ihm mit, dass Fürchtegott Wendehals bereits oben sässe und sich auf das Mittagessen freue und die übrigen Kostgänger jede Minute einträfen. Weil es keinen Abzug in der Küche gab, war sie erfüllt von manigfaltigen Gerüchen und Dampf, Quinten schwitzte wie ein Feldforscher im brasilianischen Urwald. Die Kochschürze, die er sich umgebunden hatte, starrte vor Flecken. Es herrschte ein grosses Durcheinander in der Küche, überall standen und lagen Kochutensilien herum, die Quinten aus irgendwelchen Gründen zwischenlagerte, anstatt sie sofort wieder dort hinzustellen oder hinzuhängen, wo sie hingehörten. Und zwischen all dem Küchengerümpel erhoben sich Berge von Kartoffel-, Karotten und Zwiebelschalen, türmten sich Anschnitte von Kohlrabis, Lauchgemüse und Bohnen und ballten sich offene Gewürzdosen, Öl-, Essig- und Weinflaschen zu Agglomerationen hässlicher Küchenrequisiten. Offensichtlich fühlte sich Quinten wohl in diesem Chaos. Und bestimmt hätte sich Abraham van Beijeren zum einen oder anderen Stillleben inspirieren lassen.
«Schnapp dir die Holzkelle und rühr die Kartoffeln um», hiess mich Quinten.
Ich half gern beim Kochen. Ich band mir ein Geschirrtuch um, um dem Klischee eines Küchengehilfen möglichst nahezukommen, schnappte mir eine der herumliegenden Holzkellen und fing damit an, die Kartoffelscheiben unter lautem Zischen und Dampfen in der grossen Bratpfanne herumzuschichten und zu wenden.
«Gib acht, dass sie nicht anbrennen, lass sie aber genug braun werden.»
Die Hitze wurde unerträglich, als Quinten sechs Koteletts gleichzeitig in die gusseiserne Bratpfanne gab. Das Öl spritzte in alle Richtungen und der aufsteigende feuchte Dunst hüllte Quinten, der inzwischen zu fluchen begonnen hatte, weil das herumspritzende Öl seine nackten Unterarme versengte, bald völlig ein. Es brodelte, qualmte und zischte, als ob eine Dampflock sich in Bewegung
setzt.
«Quinten, kannst du die Suppe hochbringen, bevor die Koteletts durch sind?!»
«Verdammt, die Suppe!»
Quinten wendete die Fleischstücke und drehte das Gas zurück. Dann rührte er noch einmal kräftig die Hühnersuppe, bevor er mit den Enden seiner Schürze den grossen, heissen Suppentopf vom Herd nahm, um ihn die Treppe hinauf ins Restaurant zu tragen. Meine Eltern hatten es sich angewöhnt, die Suppe erst oben in die Teller zu geben, um das mühselige Hochtragen gefüllter Suppenteller erst gar nicht in Betracht ziehen zu müssen. Es wäre sowieso recht einfältig gewesen, jeden Teller einzeln hochzutragen und dabei nicht nur die Hälfte zu verschütten, sondern die Brühe auch noch erkalten zu lassen. Suppen müssen heiss serviert werden, ausser natürlich eine andalusische Gazpacho und dergleichen kalte Gemüsesuppen. Also trug Quinten die Suppen jeweils in den Töpfen hoch, wo unsere Mutter die Teller schöpfte und meine ältere Schwester Lou sie sofort zu den Tischen trug, wobei sie sich so vorsichtig und langsam bewegte, als ginge sie auf einem Seil.
Weil Quinten das Fleisch in der Pfanne nicht zu lange sich selber überlassen wollte, stieg er diesmal die steile Treppe geschwinder hinauf als üblich. Mit fatalen Folgen. Den obersten Tritt erwischte er nicht richtig, stolperte und fiel der Länge nach hin, wobei er von Glück sagen konnte, dass er die kochend heisse Suppe instinkthaft von sich warf und dadurch verhinderte, sich Verbrühungen oder gar ernsthafte Verbrennungen zuzuziehen. Das wäre nicht zum ersten Mal passiert, hatte sich unser Vater doch schon einmal eine schlimme Verbrennung zugezogen, nämlich damals als kleiner Junge, als ein Packen Bengalischer Zündhölzer sich in seiner Hosentasche entzündet hatte und üble Verletzungen auf seinem Oberschenkel hinterliess.
Der dampfende Topf landete scheppernd mitten in der Gaststube, die heisse Brühe schwappte über und klatschte auf dem Boden auf, wo sie sich alsogleich in alle Richtungen verteilte. Die Gäste trauten ihren Augen nicht, meine Mutter und Lou hielten sich vor Schreck die Hände vors Gesicht, Quinten verfluchte die ganze Welt und wollte gerade aufstehen, als ich oben an der Treppe ankam, um an der ganzen Aufregung teilzuhaben. Die Hühnerbrühe am Boden dampfte immer noch und verströmte einen vorzüglichen Duft, während unten in der Küche die Bratkartoffeln und die Koteletts langsam aber sicher anbrannten, nachdem Quinten und ich sie ihrem Schicksal überlassen hatten. Quinten war ausser sich und verfiel seinem angeborenen Jähzorn. Die Gäste wohnten der Szene mit ausdruckslosen Gesichtern bei, ausser Fürchtegott Wendehals, der süffisant vor sich hin lächelte.
In schmallippiger Eintracht dasitzend, getraute sich keiner der Gäste etwas zu sagen, bevor Quinten sich nicht beruhigt hatte und einsehen musste, dass Jähzorn keine gute Vorraussetzung ist, um sich in Situationen wie dieser durchzusetzen. Also setzte er auf Vernunft, um dieser misslichen Lage Herr zu werden, und delegierte in scheinbar krisenvertrauter Manier die anfallenden Arbeiten, die nötig waren zur Wiederherstellung des Normalzustands, an mich und meine Geschwister. Mich schickte er nach unten in die Küche, um Koteletts und Bratkartoffeln davor zu bewahren, Opfer von zu viel Hitze zu werden. Camille und Lou schickte er ins Badezimmer, das sich auch im Untergeschoss befand und die Bezeichnung Badezimmer auf keinen Fall verdiente, um Eimer, Putzlappen und Wischmopp zu holen. Salomé hiess er, sich an einen der hinteren Tische zu setzen und sich nicht zu bewegen, solange die Putzaktion dauerte. Natürlich versäumte er es nicht, sich vorgängig bei den hungrigen Gästen dafür zu entschuldigen, dass es heute keine Suppe gab. Die Kostgänger nickten stumm und staunten nicht schlecht, wie wir Kinder unter der Regie von Quinten im Handumdrehen wieder für Ordnung gesorgt hatten.
Während der ganzen Aktion hatte meine Mutter nichts gesagt. Sie stand hinter der Theke und schien in Gedanken ganz wo anders zu sein. Sie wusste schon in jenem Moment, dass sie in diesem Hotel nicht alt wird. Hier herrschten Zustände wie im alten Rom: keine Zentralheizung, kein warmes Wasser, geschweige denn ein Badezimmer, das diese Bezeichnung nur annähernd verdient hätte, die Wirte­wohnung war ungemütlich und hässlich, die Kinderzimmer dunkle Löcher, die jeglicher Attribute von Gemütlichkeit entbehrten. Es gab weder in der Küche noch im Restaurant eine Spülmaschine. Alles musste von Hand gereinigt werden, in der Küche im Keller, wo meine Eltern für teures Geld als erstes einen Durchlauferhitzer einbauen liessen, um nicht jedesmal Wasser aufsetzen zu müssen, wenn heisses Wasser gebraucht wurde. Der als vermeintliches Badezimmer bezeichnete Keller neben der Küche verfügte lediglich über eine freistehende, von den Spuren der Zeit gezeichneten Badewanne, in die wir Kinder einmal in der Woche widerwillig steigen mussten, bevor wir anfingen, schlecht zu riechen. Als ich die auf ihren Klauenfüssen stehende Wanne zum ersten Mal sah, hatte ich das Gefühl, dass sie, bevor sie von irgendjemandem hier herunter gebracht worden war, mindestens zweihundert Jahre als Tiertränke gedient haben musste. In derselben Wanne pflegten auch unsere Langzeitgäste zu liegen, ausser Fürchtegott Wendehals, der es laut unserer Mutter vorzog, auswärts zu baden. Wie er mir später auf einem unserer Spaziergänge erzählte, zog er es vor, sich jeweils in einem der vielen Bergbäche zu baden, indem er sich in einen Fisch verwandelte und durch das kristallklare Wasser schoss. Und weil Fürchtegott wusste, dass die Wahrheit zu sagen immer die beste Lüge ist, wusste er auch, dass ich ihm kein Wort glaubte. Trotzdem konnte ich nicht genug von seinen Geschichten kriegen und es dauerte nicht lange, bis ich ihn auf seinen nachmittäglichen Spaziergängen, die sich zuweilen in veritable Wanderungen ausdehnten, beinahe täglich nach der Schule begleitete. Ich durfte sogar die beiden Vögel in ihrem Käfig tragen, solange ich wollte und bis meine Arme vor Anstrengung zu schmerzen begannen und ich das Gefühl hatte, an meinen Schultern hingen bleierne Klötze.
Was mich betraf, war ich schon bald mit den beiden grossen Bratpfannen hilflos überfordert und schrie nach Quinten. Er polterte die Treppe herunter und übernahm unverzüglich wieder das Kommando am Herd und rettete, was noch zu retten war. Und das war nicht wenig. Eigentlich war nichts verloren ausser der Hühnerbrühe.
«Das hast du gut gemacht, Rupert. Ohne dich wäre alles angebrannt.»
Mein Vater lächelte mich zufrieden an und schien das Malheure mit der Suppe bereits vergessen zu haben.
Auch wenn sich meine Mutter zu keiner Zeit in diesem Hotel wohlgefühlt hat, liess sie es sich kaum anmerken. Mit den Gästen war sie immer sehr freundlich und zuvorkommend. Sie versuchte ständig, aus allem mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln das Beste zu machen. Und diese Mittel waren äusserst bescheiden. Ich konnte mir gut vorstellen, dass sie ab und an weinte, wenn sie alleine war. Und ebenso gut konnte ich mir vorstellen, dass sich meine Eltern stritten, wenn wir Kinder nicht zugegen waren. Aber das ist nichts Aussergewöhnliches. Das kommt in der besten Familie vor.
«Wie blöd muss man sein, um sich ein derart heruntergekommenes Hotel aufschwatzen zu lassen! Und was hast du dir eigentlich dabei gedacht, als du diesen Wisch ohne mein Wissen unterschrieben hast! Hinter meinem Rücken!»
Meine Mutter fuchtelte wie wild mit dem Pachtvertrag vor Quintens Gesicht herum, als handelte es sich um ein Pamphlet vernichtenden Inhalts, bevor sie das teuflische Machwerk von sich schleuderte und es flatternd an Quintens Kopf vorbei durch das Zimmer flog wie ein sterbender Vogel, der seine letzten kläglichen Flügelschläge tut.
«Jetzt beruhige dich endlich und hör auf herumzuschreien. Du weckst die
Kinder.»
«Die Kinder?! Ja hast du denn überhaupt an die Kinder gedacht, als du dich dazu entschlossen hast, in dieser Absteige zu leben? Das ist doch kein Zuhause. Das ist ein Loch! Schlimmer noch als jedes Gefängnis!»
«Nun hab dich nicht so und gib endlich Ruhe. Die Kinder werden sich bestimmt daran gewöhnen.»
«Die Kinder vielleicht schon! Aber ich nicht! Ich werde mich niemals daran gewöhnen! Und wenn ich ehrlich bin, wünsche ich mir von Herzen, dass sich die Kinder auch nicht daran gewöhnen!»
Quinten versuchte, seinen Jähzorn in Schranken zu halten und nicht in Raserei zu verfallen, während meine Mutter die Tränen nicht zurückhalten konnte und dem Regen der Gefühle freien Lauf liess. Sie tat gut daran zu weinen und auf diese Weise den Müll zu entsorgen, der sich zu jener Zeit in ihrer Seele angesammelt hat. Ihre Gemütsruhe wurde stark in Mitleidenschaft gezogen, und hätte sie damals nicht so oft geweint, wäre ihre Seele vom Rost zerfressen worden, vom Rost, den ihre ungeweinten Tränen verursacht hätten.
Allmählich wurde sich Quinten bewusst, dass es keine gute Idee war, gerade hier am Ende dieses engen Tals mit diesem Hotel in die Gastronomie einzusteigen. Und er fragte sich immer öfter, ob es überhaupt eine gute Idee gewesen war, sich für das Gastgewerbe zu entscheiden. Der Haussegen hing immer schiefer und die ansonsten herrschende Harmonie zwischen meinen Eltern war beträchtlich gestört, und es kam in der Folge immer öfter vor, dass meine Mutter in ihrer Verzweiflung weglief. Manchmal blieb sie sogar bis nach Mitternacht weg. Von all diesen Streitereien bekamen wir Kinder nicht viel mit, weil es unsere Eltern tunlichst vermieden, ihre Meinungsverschiedenheiten in unserer Gegenwart auszutragen. Jahre später sollten wir doch noch in den Genuss kommen, an ihren lautstarken Auseinandersetzungen teilzuhaben, als sie uns eigens für die eine oder andere Darbietung ehelichen Zerfalls mitten in der Nacht aus unseren Betten holten. Schlaftrunken mussten wir ihrem Theater von der ersten Reihe aus beiwohnen, und keines von uns Kindern konnte im Halbschlaf verstehen, was sie mit diesen mitternächtlichen tragikomischen Intermezzos bewirken wollten. Wir durften erst wieder nach oben, wenn bei meinen Eltern die Vernunft obsiegt hatte, oder ein Elternteil – meist war es meine Mutter – in der Hitze des verbalen Gefechts einfach davongelaufen war.
Während sich unsere Eltern immer öfter stritten, taten wir Kinder das, was Kinder halt so tun, wenn sie an einen fremden, neuen Ort gezogen sind: Wir erkundeten die unmittelbare Umgebung. Vor allem der Fluss, der dem Tal und unserem damaligen Wohnort den Namen gibt und sozusagen vor der Haustüre fliesst, hatte es uns angetan. Das fliessende Gewässer konnte es natürlich nicht mit einem See aufnehmen, aber es hatte durchaus seinen Reiz und wir verbrachten Stunden damit, eine Furt zu finden, um ans jenseitige Ufer zu gelangen, ohne über eine Brücke zu gehen. Das war nicht ganz ungefährlich, und Fürchtegott Wendehals verbot uns in der Folge, den Fluss an irgendeinem anderen Ort zu queren als auf einer Brücke. Schliesslich habe man die Brücken nicht umsonst gebaut.
Ich vermute, dass unsere Eltern, die, wenn sie sich nicht gerade um die Gäste kümmerten, sich vor allem in nicht enden wollenden Streitereien ergingen, insgeheim froh darüber waren, dass sich Fürchtegott Wendehals um uns Kinder kümmerte, als wäre er um unsere Erziehung besorgt. Dabei wollte er uns nur in guter Obhut wissen, solange sich die Eltern gegenseitig Schimpftiraden an die Köpfe schleuderten. Und weil er der Meinung war, dass unter seiner Obhut zu stehen die sicherste sei, nahm er uns vier kurzerhand auf seine langen Spaziergänge mit, auf denen er uns allerlei unglaubliche Geschichten erzählte und auf denen uns die Enge des Tals noch bewusster wurde. Und weil das Tal so eng ist, blieb uns nichts anderes übrig, als an den Flanken der bedrohlichen Berge in die Höhe zu steigen.
«Warum nennst du die Berge hier immerfort die Berge des Wahnsinns, Rupert?»
«Ich weiss nicht. Vielleicht weil es gut klingt.»
«Du willst nicht damit sagen, dass man hier dem Wahnsinn verfallen kann?»
«Dem Wahnsinn kann man überall verfallen, dazu braucht es keine Berge.»
«Da hast du recht. Dem Wahnsinn kann man überall verfallen.» Fürchtegott Wendehals schien in den Ozean seines Gedächtnisses hinabzutauchen, um sich von den blassen Schattenspielen der Erinnerung einlullen zu lassen, und es dauerte eine Weile, bis er wieder aufgetaucht war aus den Untiefen seiner mythologischen Vergangenheit. «Wenn ihr wollt, steige ich mit euch auf einen Berg des Wahnsinns. Wir brauchen ja nicht bis zum Gipfel hinaufzusteigen, aber doch hoch genug, um die einzigartige Aussicht geniessen zu können. Das Panorama ist der pure Wahnsinn.»
«Haben die Vögel keine Namen?», fragte Camille.
«Natürlich haben sie Namen. Habe ich sie euch nie genannt?»
«Nein, haben Sie nicht.»
«Darf ich vorstellen: Das sind Piep und Matz.» Fürchtegott zeigte zunächst auf den einen, dann auf den andern. «Ihres Zeichens zwei wunderbare Exemplare der Gattung Jynx. Das sind keine Drosseln, wie manche Leute glauben. Das sind Spechte. Und jetzt ratet mal, was für Spechte.»
Und als ob die beiden Vögel merkten, dass Fürchtegott von ihnen sprach, sträubten sie synchron ihr Kopfgefieder zu einer auffallenden Haube und wackelten gleichzeitig mit ihren langen, graubraunen Schwanzfedern. Akustisch untermalten die Spechte ihr Verhalten mit dem für sie typischen Gesang im Duett, wobei sie ihre Köpfe ausserordentlich auffällig drehten und wendeten.
«Was für Spechte? – Na, Spechte halt», antwortete Camille.
«Hier handelt es sich um zwei Wendehälse. Schaut nur, wie sie ständig die Köpfe bewegen, wie schmierige Opportunisten.»
Fürchtegott kicherte und lächelte uns an, und die Vögel vollführten wie auf Kommando noch heftigere Kopfbewegungen, während derer sie ständig ihre Blickwinkel wechselten. Inzwischen hatten wir uns um den Bambuskäfig geschart und musterten die beiden Vogelviecher, als wären sie nicht von dieser Welt.
«Was sind Opportunisten?», fragte Camille.
«Opportunisten sind Speichellecker, Arschkriecher», antwortete ich.
«Richtig. Opportunismus ist die Tugend von Politikern.»
«Was bedeutet Jynx?», fragte ich.
«Jynx ist eine Nymphe aus der griechischen Mythologie. Mit List und durch Zauberei hat sie Zeus zur Liebe mit Io verführt. Und wem so was gelingt, der kann sich einer Bestrafung, vollzogen durch Zeus’ Ehefrau, sicher sein. Hera verwandelte Jynx in einen Wendehals.»
Wir Kinder schauten einander fragend an, weil keines von uns verstand, was Fürchtegott gerade erzählt hatte.
«Warum gerade in einen Wendehals?», fragte ich Fürchtegott, nachdem ich mir einen Ruck gegeben hatte und aus meiner stummen Ratlosigkeit erwacht war.
«Na ja, das hat wahrscheinlich damit zu tun, dass der Wendehals schon immer als geeignetes Medium für allerlei Liebeszauber gilt.»
«Dann müssen auch Sie ein solches Medium sein. Sie heissen schliesslich Wendehals. Könnte man einen dieser Liebeszauber nicht auf unsere Eltern anwenden? Das käme ihnen sicher gelegen.»
«Da hast du recht, Rupert. Eure Eltern würden ein bisschen Liebeszauber auf jeden Fall vertragen. Wir werden sehen.»
Während Fürchtegott diese Worte sprach, öffnete er den Käfig und liess Piep und Matz fliegen.
«Kinder, zur Abwechslung werde ich heute nicht mitfliegen.»
«Können Sie denn fliegen?», fragte Salomé.
«Natürlich kann ich fliegen, Kleine.»
Wir mussten lachen und sahen den Vögeln zu, wie sie sich erhoben, einander abwechslungsweise jagten und schliesslich verschwanden.
«Kommen sie zurück?», fragte Salomé.
«Piep und Matz kommen immer zurück.»
«Sind Sie auch ein Opportunist?», fragte ich als Nächstes.
«Früher ja. Heute nicht mehr. – So Kinder, lasst uns weitergehen.»
Wir spazierten wieder hinunter in den Talboden, wo uns Piep und Matz schon erwarteten. Sie sassen eng beieinander auf der Lenkstange eines Fahrrads, das schon lange am Wegesrand stehen musste und allmählich vor sich hin rostete. Sie drehten ungeduldig die Köpfe nach allen Seiten und schienen es kaum erwarten zu können, wieder in ihren Käfig zu kommen.
«In China tragen die Menschen ihre Vögel in genau solchen Käfigen spazieren und hängen sie in den Parks in die Bäume, während sie sich selber dem Müssiggang hingeben oder ihr tägliches Körperertüchtigungsprogramm absolvieren. Schattenboxen gilt in China als Volkssport. Das sieht dann etwa so aus.»
Weil kein Baum in der Nähe stand, hängte Fürchtegott den Käfig an den alten Drahtesel. Dann zog er seine Jacke aus und hängte auch sie über das Fahrrad. Er krempelte sich die Hemdsärmel hoch und brachte sich vor uns in die für die folgende Demonstration vorgeschriebene Ausgangsposition, indem er sein Gewicht richtig verteilte, den Kopf entspannt aufrichtete, Schultern und Ellenbogen hängen liess und den Rücken gerade dehnte. Dann vollführte er eine Abfolge fremdartig anmutender Bewegungen, die uns erneut zum Lachen brachten. Fürchtegott liess sich von unserem Gekicher nicht ablenken und vollendete sein Programm. Piep und Matz kommentierten diese Darbietung fernöstlicher Bewegungsabläufe auf ihre Art. Ohne das Dargebotene zu kommentieren, verharrte Fürchtegott zum Schluss der Übungen einige Sekunden mit geschlossenen Augen und gesenktem Haupt an Ort und Stelle, bevor er sein Hemd wieder in Ordnung brachte, sich die Jacke überzog, den Käfig vom Drahtesel nahm und ohne uns anzuschauen weiterging, als ob wir nicht neben und hinter ihm stünden, als ob das, was in den letzten paar Minuten geschehen war, nicht stattgefunden hätte. Wir folgten ihm respektvoll in gebührendem Abstand, nicht wissend, was er uns mit seiner Vorführung eigentlich sagen wollte, und nicht wagend, ihn deswegen zu behelligen, jetzt wo er leichtfüssig, scheinbar mit sich und der ganzen Welt zufrieden, Richtung Dorf vorausging, das in bukolischer Selbstvergessenheit vor uns lag.
Als wir beim Hotel ankamen, herrschte grosse Aufregung. Der Grund dafür war nicht etwa, wie wir vermuteten, eine weitere Eskalation unserer Eltern, in deren Verlauf sie und die anwesenden Gäste sich nach draussen begeben hatten, nein, es war ein Auto, das der Inhaber der Garage gleich neben uns voller Stolz den Leuten präsentierte, die mit grosser Begeisterung um das Vehikel amerikanischer Machart standen, als handelte es sich um etwas, das vom Himmel gefallen war. Das Gefährt war unendlich lang und beinahe unerträglich grün. Es war ein Mercury Comet aus dem Hause Ford, ein amerikanischer Mittelklassewagen, der über fünf Meter lang war. Unter der Haube sass ein 6,4-Liter-Achtzylindermotor, der jedes Männerherz höher schlagen liess. Wir gesellten uns zu den Leuten und bestaunten das Automobil, noch nicht wissend, dass es sich Quinten, der sich mit dem Garagisten und einem unserer Stammgäste gerade den Motor etwas genauer ansah, wenige Tage später unter den Nagel reissen würde. Ob es eine gute Idee Quintens war, sich gerade jetzt, wo sich über der Ehegemeinschaft unserer Eltern immer öfter bedrohliche Gewitterwolken ballten und das eheliche Band allmählich zu zerreissen drohte, einen neuen Wagen zuzulegen, kann ich nicht sagen. Auf jeden Fall war die Anschaffung des Occasionswagens nie auch nur ein Teil des Inhalts ihrer Auseinandersetzungen, und noch weniger musste er jemals als Initialzündung ihres zwischenmenschlichen Sprengstoffs herhalten. Im Gegenteil, der Mercury Comet eröffnete viel mehr den Reigen einer ganzen Reihe amerikanischer Autos, die sich unsere Eltern in den kommenden Jahren nacheinander zugelegt hatten. Ganz offensichtlich hatte nicht nur Quinten an Autos aus Übersee den Narren gefressen, sondern auch unsere Mutter. Vielleicht erhoffte sich Quinten, durch die Anschaffung dieses auffälligen Gefährts das ins Wanken geratene Fundament ihrer Ehe wieder zu festigen. Das bezweifle ich aber, weil ich glaube, dass materielle Dinge weder seelischen Schmerz auf Dauer zu lindern imstande sind, noch dazu dienen, einen Menschen, den man enttäuscht hat, wieder für sich zu gewinnen. Dafür bedarf es anderer Dinge.
Während Quinten, der von Motoren eine Menge versteht, fachmännisch mit dem Garagisten über den kräftigen Hubkolbenmotor im Allgemeinen und über Zylinderbänke, Kurbelwelle, Zündkerzen, Pleuel, Hubzapfen und Ventilsteuerung im Speziellen fachsimpelte, setzten sich die anderen abwechslungsweise hinter das Steuer und versuchten ihrer Begeisterung Ausdruck zu verleihen, indem sie vor allem die mehr als nur einen Hauch Luxus verströmende Innenausstattung lobten. Man war sich bald einig, dass das hier ein wirklich kommodes Automobil war. Gerade als sich unsere Mutter ins Auto setzte und Ablageflächen, Stauräume und die vielen technischen Besonderheiten begutachtete, fing es an zu regnen. Bevor sie wieder ausstieg und sich ins Restaurant zurückbegab, spielte sie noch mit den elektrischen Fensterhebern. Wie ein Kind fuhr sie mit der Scheibe hoch und runter, dann wieder hoch, und noch einmal runter, bis sie das Fenster wieder schloss. Wir folgten ihr ins Haus, wo wir uns an den Familientisch setzten und eine heisse Schokolade tranken.
«Und, was habt ihr heute gemacht, Kinder?», fragte Mutter.
«Wir waren spazieren. Fürchtegott hat Piep und Matz fliegen lassen», antwortete Salomé.
«Wer sind Piep und Matz?»
«Aber Mama! Wer wohl.»
«Ach so, natürlich. Das sind Fürchtegotts Vögel. Ich wusste nicht, dass sie Piep und Matz heissen.»
«Fürchtegott hat uns gezeigt, wie sich die Chinesen fit halten», sagte Camille.
«Soso. Und wie tun sie das?»
«Sie hängen ihre Vögel mit den Käfigen in die Bäume. Dann vollführen sie seltsame Bewegungen in Zeitlupentempo.»
«Soso, und das soll sie fit halten?»
«Nicht nur fit, sondern auch gesund», antwortete ich.
«Das ist toll, Kinder. Trinkt jetzt eure Schokolade.
«Fürchtegott nimmt uns mit auf einen Berg, damit wir die Fernsicht geniessen können.»
«Auf welchen Berg?»
«Keine Ahnung», erwiderte ich, «Berge hat es hier ja genug. Er wird schon wissen, auf welchen.»
«Das ist schön, Kinder.»
Wir tranken unsere Schokolade. Der Regen lief in Schlieren die Fenster hinab und wir konnten kaum erkennen, wie sich Quinten und der Garagenmann im trockenen Innern des Mercury Comet weiter über autotechnische Dinge unterhielten. Mutter hantierte gedankenverloren hinter dem Tresen herum. Am Stammtisch sassen vier Gäste, die zusammen mindestens dreihundertfünfzig Jahre zählten und es schon lange aufgegeben hatten, sich zu unterhalten. Ihre Gespräche fanden schweigend statt. Die ganze Aufregung wegen des Autos interessierte sie nicht. Zufrieden mit dem Zustand ihrer Welt, tranken sie trostlosen Wein und lächelten ab und an. Und wenn sie nachbestellten, hoben sie nur die leeren Gläser und grinsten zahnlos Richtung Mutter. Die vier alten Kerle sassen jeden Nachmittag für mehrere Stunden in der Gaststube, tranken den billigsten Roten, den meine Eltern im Angebot führten, und starrten meiner Mutter kurzsichtig auf den Hintern, als seien sie nur dazu konditioniert worden. Sie hatten sich schon lange ihren Mikrokosmos geschaffen, wo sie nach ihren eigenen Gesetzen lebten und Problemen nach Möglichkeit aus dem Weg gingen, indem sie diese mit greisenhafter Gelassenheit ignorierten und immerfort an die gute alte Zeit dachten, deren Existenz sie einzig ihrem schlechten Gedächtnis zu verdanken hatten.
Für mich waren die alten Männer mehr als einmal ein lohnendes Motiv. Ich fertigte Skizzen in Kohle von den vier Methusalems, wobei ich mich besonders da­rum bemühte, in der Wiedergabe ihrer zerfurchten Gesichter die Vergänglichkeit der Zeit hervorzuheben. Mitunter hatte ich das Gefühl, dass sie sich meinen künstlerischen Bemühungen zuliebe nicht zu bewegen trauten, wie Modelle sassen sie still bei Tisch. Einige der Skizzen gelangen mir so gut, dass sie Quinten mit Reisnägeln über dem Stammtisch an die Wand pinnte. Ausserdem zierten Zeichnungen von Fürchtegotts Vögeln in ihrem Käfig und natürlich mehrere gelungene Darstellungen von Fürchtegotts eigenwilligem Antlitz die gegenüberliegende Wand.
Nach unserem Umzug in die Berge des Wahnsinns hatte ich damit aufgehört, mit meinen Holzklötzen Dinge zu errichten, die es meiner Meinung nach verdienten, nachgebaut zu werden. Schlagartig verlor ich das Interesse daran, nicht nur weil es im Zimmer, das ich immer noch mit Camille teilte, schlichtweg keinen Platz hatte, sondern vielmehr deswegen, weil ich einfach älter wurde und andere Interessen zu verfolgen begann. Unsere gemeinsame Kammer, die einer Mönchszelle in einem Karthäuserkloster nicht unähnlich war, bot uns Brüdern keinen Platz für Spielsachen. Deshalb mieden wir unser Cubiculum und suchten es nur auf, um in Ruhe zu lesen und natürlich um die Nächte zu verbringen. Beinahe notgedrungen verbrachte ich einen Grossteil der Tage in der Gaststube, wo ich zeichnete, Hausaufgaben machte oder Quintens grossformatige Bildbände, die ich mir aus einer seiner Bücherkisten geholt hatte, aufmerksam durchblätterte. Quinten hatte wirklich tolle Bücher. Über die Entstehung der Welt, über die Evolution, über die Kosmologie, über berühmte Persönlichkeiten, über Geschichte und Philosophie, über Pflanzen und Tiere, über Kunst und Mode, über Traum und Wirklichkeit, über Religion und Mythologie, über Magie, Alchemie und Wissenschaft, über Flugzeuge, Eisenbahnen und Autos und über vieles mehr. Zu jener Zeit war ich besonders angetan von seinen Büchern über die Evolution und Kosmologie. Ich konnte stundenlang über den reich bebilderten Folianten sitzen und die Zeit vergessen. Wie beinahe jedes Kind war ich angefressen von Dinosauriern und anderen Viechern aus grauer Vorzeit und von den unendlichen Weiten des Weltalls, und so war es nicht verwunderlich, dass ich meinen Eltern eines Tages eröffnete, dass ich Paläontologe, Archäologe und Astronaut werden wolle.
«Du musst dich schon für eins entscheiden, Rupert, alles kannst du unmöglich werden», sagte mir Mutter, als ich ihr eines Tages, während ich mit ihr den Abwasch in der Küche machte, von meinen Traumberufen vorschwärmte.
«Immer muss man sich für etwas entscheiden. Das ist Blödsinn. Warum kann man nicht mehrere Berufe erlernen?»
«Weil das Leben zu kurz ist.»
Unzufrieden mit dieser Antwort, trocknete ich das Geschirr ab und dachte tatsächlich darüber nach, ob und wie man das Leben verlängern könnte. Natürlich fiel mir nichts ein und ich beschloss, Fürchtegott um Rat zu fragen.
«Um dein Leben dereinst zu verlängern, Rupert, müsstest du den sagenumwobenen Jungbrunnen finden», antwortete mir Fürchtegott ein paar Tage später auf meine Frage. «Aber da kannst du lange suchen. Den Quell ewiger Jugend gibt es nämlich nicht. Der existiert nur in den Köpfen von euch Menschen.»
Auf diese Antwort war ich vorbereitet und hatte deswegen ein dickes Buch über Malerei mit nach unten gebracht, das ich auf der Seite öffnete, auf der ein Bild von Lucas Cranach dem Älteren reproduziert war und den Jungbrunnen darstellte. Da tummeln sich Menschen beiderlei Geschlechts und verschiedenen Alters im Wasser eines rechteckigen Brunnens. Auf der einen Seite werden in Schubkarren und hölzernen Wagen alte Leute herangekarrt und entkleidet, die zwei Stufen hinab ins Becken geleitet, wo sie sich ins Wasser tauchen und von ihrem Alter und ihren Gebresten gereinigt werden. Auf der anderen Seite steigen dieselben Leute, in frischer Jugend erblüht, wieder aus dem Wasser, wo sie sich in Zelten frisch einkleiden lassen, um ihre neugewonnene Jugend alsogleich gebührend zu feiern, sei es an einer reich gedeckten Tafel, im paradiesischen Garten oder gleich hinter den Büschen. Ich schob das aufgeschlagene Buch zu Fürchtegott.
«Oh. Der Jungbrunnen von Cranach dem Älteren.» Fürchtegott betrachtete das Bild eine Zeitlang schweigend, bevor er also sagte: «Das ändert nichts an der Tatsache, dass es den Jungbrunnen nicht gibt. Am ehesten könnte man die Natur selber als Jungbrunnen bezeichnen. Schliesslich kann euch die Natur alles bieten, was ihr Menschen begehrt. Solange ihr die Natur fördert, fördert ihr euch selber, weil ihr Teil von ihr seid. Geht ihr aber schlecht mit ihr um, kommt das einem Selbstmord gleich.»
Ich zog das Buch wieder zu mir, schloss es mit klappendem Geräusch und fragte mich, warum Fürchtegott ständig von euch Menschen und nicht von uns Menschen sprach. Ganz so, als würde er sich nicht zur Gattung Mensch zählen. Seine Wortwahl bestärkte in mir den Verdacht, dass Fürchtegott nicht von dieser Welt war.
«Rupert, es ist wichtig, dass der Mensch die Zeit, die ihm zur Verfügung steht, sinnvoll nutzt. Und dazu gehört bestimmt nicht, nach der Quelle der ewigen Jugend zu suchen, das wäre reine Zeitverschwendung. Und man sollte die Zeit nicht einfach verstreichen lassen, um dann schockiert festzustellen, dass es später ist, als man denkt.»
Fürchtegott lächelte mich an, bevor er einen kräftigen Schluck von seinem wohltemperierten Bier nahm.
«Wie kann ich meine Zeit am besten nutzen?»
«Indem du das tust, was du gerne tust. Sieh dir nur die vier alten Kerle an. Jeden Tag sitzen sie stundenlang hier, trinken ihren Fusel und schweigen sich grinsend an. Und warum tun sie das? Weil es ihnen Spass macht. Und weil sie nichts anderes mehr zu tun haben. Sie sind alt, sie haben genug getan. Sie nutzen die ihnen noch verbleibende Zeit auf ihre Art.»
«Ja. Es muss ein unendlicher Spass für sie sein, meiner Mutter bei jeder Gelegenheit auf den Hintern zu starren.»
«Ja, das muss es wohl sein.»
Fürchtegott nahm einen weiteren Schluck und lächelte erneut, diesmal in Richtung Stammtisch, wo die vier Greise sich mit knorrigen Händen an ihren Weingläsern festhielten, um sich wenigsten für ein paar Stunden aus den starren Zwängen ihrer absurden Realität zu befreien. In ihrer Selbstzufriedenheit näherten sie sich gelassen dem Tag, der wie jeder andere Tag für sie sein würde, nur etwas
kürzer.
«Wann gehen Sie mit uns in die Berge, um die Aussicht zu geniessen?»
«In die Berge des Wahnsinns? Bald, mein Junge. Bald.»