Flucht aus Stalingrad


Auszug aus dem fünfzehnten Kapitel
Flucht aus Stalingrad

Josef fiel auf, dass die vielen schwarzen Flecken unter dem weissen Teppich des Winters verschwunden waren. Was wird hier wohl im kommenden Frühling wieder alles zum Vorschein kommen, wenn die Tränen des Himmels nicht mehr gefroren sind und die Kraft der Sonne stark genug ist, Schnee und Eis zu schmelzen. Der gefrorene Boden wird sich in einen See aus Schlamm verwandeln, der angefüllt wäre mit Geröll und Leichen. Ein übler Dunst wird aufsteigen und über der zerstörten Stadt liegen. Man wird sich in einem weiteren Kreis der Hölle wähnen. Der schmutzige Pfuhl wird all die seelenlosen Körper wieder freigeben, die der unerbittliche Winter so lange mit seinen Klauen im eisigen Griff gefangen hatte. Josef hoffte insgeheim, dass all die Seelen, die den unzähligen Körpern innegewohnt hatten und die Hölle auf Erden erleben mussten, sich nun in angenehmeren Gefilden befänden. Diese Gedanken waren gleichsam ein kleiner Trost für meinen Grossvater. Wer schon zu Lebzeiten durch die Hölle gehen muss, der kann mit gutem Gewissen ins Jenseits wechseln.
Während Josef über den Tod sinnierte, merkte er nicht, dass die Männer vor ihm stehengeblieben waren. Als auch er und die übrigen aufgeschlossen hatten, standen sie vor offenem Gelände, das keinerlei Schutz bot vor den Scharfschützen, die in ihren Verstecken hockten und nur darauf warteten, dass der Feind sich zeigte. Der mit der zornigen Stimme fluchte und hiess die Männer, nicht zu weit nach vorne zu schreiten und im schützenden Schatten zu bleiben. Die Männer setzten sich in die dunklen Winkel und schauten einander teilnahmslos an. Der mit der zornigen Stimme fluchte immer noch, während er mit einem kleinen Fernglas die Umgegend absuchte.
«Verdammte Scheisse! Himmelherrgott nochmal! Hier können wir nicht durch! Verdammte Scheisse! Vielleicht in der Nacht. Oder vielleicht, wenn der Schneefall stärker wird. Scheisskrieg! Scheisswinter! Scheissrussen!» Wütend nahm er seinen Helm ab und schleuderte ihn zu Boden. «Verdammte Scheisse! Hat irgendwer einen vernünftigen Vorschlag?»
Die Gefragten starrten ihn erschrocken an, unfähig, etwas zu antworten, ausser meinem Grossvater Josef, der sich vom kalten Boden erhob, den Helm aufnahm und ihn dem mit der zornigen Stimme reichte und ihm sagte: «Beruhige dich und setz deinen Helm wieder auf. Du hast uns gerade erst gesagt, dass das kein Spaziergang werden wird, oder? Und kaum stossen wir auf ernsthafte Schwierigkeiten, verlierst du die Nerven und zeterst herum wie ein hysterisches Weib.»
«Verdammte Scheisse, du hast ja recht», sagte darauf der mit der zornigen Stimme und setzte sich seinen Helm wieder auf.
Just im selben Moment schlug eine Granate keine hundert Meter vor ihnen im offenen Gelände ein und pflügte den harten Boden grossflächig um.
«Verdammte Scheisse, das hat uns gerade noch gefehlt», begann der mit der zornigen Stimme wieder zu fluchen.
Die Männer kauerten sich in die dunkelsten Ecken und Winkel der Ruine und verharrten regungslos. Ein paar weitere Granaten schlugen ein und verwandelten die Brache in ein Trichtergelände. Überall stieg Rauch auf und trübte die Sicht. Gleichzeitig begann es heftiger zu schneien.
«Verdammte Scheisse, Männer, da hat jemand unsere Gebete erhört», frohlockte der mit der zornigen Stimme und hiess die Männer aufzustehen.
Dreissig Minuten später, nachdem der Granatenbeschuss aufgehört hatte, rannten die neun Männer in geduckter Haltung durch das in Rauch und Dunst gehüllte Trichtergelände auf die am nächsten gelegene Häuserzeile zu, wo sie sich unverzüglich zwischen die eingestürzten Mauern warfen und sich heftig schnaufend bei Gott bedankten. Während der folgenden Stunden schlichen sie durch feindbesetztes Gebiet, bis sie schliesslich völlig erschöpft Gumrak erreichten, wo sie zu ihrem Entsetzen feststellen mussten, dass es vom Feind bereits überrollt und zerstört worden war. Sie versteckten sich in den Ruinen der völlig zerbombten Werkstatt der Sturmgeschützbrigade 245, wo zwischen den zerstörten Lastwagen und Zugmaschinen zahlreiche tote Soldaten lagen – sowohl deutsche als auch russische.
«Verdammte Scheisse, das darf doch nicht wahr sein», begann der mit der zornigen Stimme erneut zu fluchen.
Josef und Prüggner rollten genervt die Augen und machten sich daran, die Toten zu untersuchen und nach brauchbaren Dingen zu filzen. Die Übrigen taten es ihnen gleich. Dann setzten sie sich zwischen die zerstörten Zugmaschinen und ruhten sich ein wenig aus. Der beissende Wind fegte um die Trümmer, und Josef vermeinte die klagenden Stimmen der Verstorbenen zu hören, deren Seelen im Wind als Geister weiterleben. Der bigotte Angsthase fragte meinen Grossvater verzweifelt, ob ihnen die Flucht aus dem Kessel gelingen würde.
«Wenn wir fest daran glauben, dann werden wir es schaffen», antwortete mein Grossvater und zündete sich eine Zigarette an, die er bei einem der Toten gefunden hatte.
Er reichte dem Angsthasen auch eine, die jener dankend annahm und deren würzigen Rauch er gierig in seine Lungen presste und ihn dann genussvoll wieder ausblies. Inzwischen war die Nacht hereingebrochen und das unablässige Grollen und Donnern der Geschütze liess die Schwärze der Nacht noch schwerer und dunkler erscheinen. Die Männer verbrachten die Nacht in der zerstörten Werkstatt, die wenigstens ein bisschen Schutz vor der Kälte bot. Vorher hatten sie den toten Deutschen Mäntel, Socken, Hosen, Pullover und Handschuhe abgenommen, die sie über oder unter den eigenen Kleidern trugen. Sie fanden in einem der kaputten Lastwagen ein paar Dosen Büchsenfleisch und Tee-Ersatz. Der mit der zornigen Stimme fachte ein Feuer an und setzte einen blechernen Topf in die Flammen, den er mit Schnee gefüllt hatte. Mit dem grössten Teil des heissen Wassers machte er Tee und in den Rest davon gab er das Büchsenfleisch. Die nahrhafte Fleischsuppe und der heisse Tee wärmten die Körper der Männer zusätzlich und sie verbrachten eine recht angenehme Nacht. Sie hatten beschlossen, in die ehemalige Arbeitersiedlung Spartakowka durchzustossen, wo sich die 24. Panzerdivision befand.
Nach wenigen Stunden ungemütlichen Schlafs schickten sich die von Hunger und Anstrengung gezeichneten Männer an, sich erneut durch feindbesetztes Gebiet auf den Weg zu machen. Vorher füllten sie noch ihre Feldflaschen mit heis­sem Tee, den der mit der zornigen Stimme zubereitet hatte. Die Kälte und der beissende Wind waren erbarmungslos und die Gesichter schmerzten ihnen.
«Scheissrussland, Scheisswinter, Scheisskrieg», fluchte der mit der zornigen Stimme unentwegt. Die anderen schwiegen zumeist, denn sie wollten vermeiden, die kalte Luft durch den Mund einzuatmen. Überall ragten die Ruinen der zerstörten Häuser in den weissen Himmel und Josef hatte allmählich das Gefühl, dass die ganze Welt ein Trümmerhaufen war. Vielleicht hatte der bigotte Angsthase doch recht und sie kämen nicht aus dieser Hölle hinaus. Wie lange sind sie noch imstande, unter diesen unmenschlichen Bedingungen zu überleben? Wie geht es weiter, wenn sie es bis nach Spartakowka schafften? Josef wusste, dass die Schlacht verloren war und sie denkbar schlechte Karten hatten, heil aus diesem Krieg zu kommen.
Während ihm diese Gedanken durch den Kopf gingen, passierten sie Strassenzüge – oder was davon noch übrig war –, auf denen wie aneinandergereiht die stummen Zeugen der vielen Kämpfe herumstanden. Zwischen den ausgebrannten Fahrzeugen lagen unzählige Tote, festgefroren und vom Schnee zum Teil bedeckt. Sie würden noch lange in den Ruinenstrassen liegen bleiben. Die klirrende Kälte erhielt den gefrorenen Leibern für Wochen das Aussehen, welches sie in der Stunde ihres Todes trugen. Auch die Kadaver unzähliger Pferde lagen wie aus Stein gemeisselt überall herum. Auf einem der Schuttberge, die einst Häuser waren, steckte das Wrack eines Jagdflugzeugs vom Typ Messerschmitt. Der Pilot sass immer noch im Cockpit. Es war ein seltsames Bild. Es sah aus, als wollte der tote Pilot auf dem direktesten Weg mit seinem Fluggerät in den tiefsten Kreis der Hölle fahren, wo er seine gerechte Strafe antreten würde.
Etwas weiter im Norden legten die Männer eine Rast ein. Der mit der zornigen Stimme sagte, dass es nicht mehr weit sei bis zum Traktorenwerk in Spartakowka und dass sie Gott dafür danken sollten, es lebend bis hierher geschafft zu haben. Die Männer bekreuzigten sich und sprachen ein jeder für sich ein stummes Gebet. Sie kamen nur sehr langsam voran. Das zerstörte Gelände verlangte alles von den Männern ab, die vor lauter Erschöpfung immer mehr Rasten einlegen mussten.
Als sie schliesslich im Traktorenwerk in Spartakowka ankamen, war die Nacht wieder hereingebrochen. Der Schnee fiel trotz der Kälte unablässig vom Himmel. Die tanzenden Flocken waren denn auch das einzig Friedliche in diesem Höllenszenario. Zu ihrem Entsetzen mussten Josef, Prüggner und die andern feststellen, dass sie nicht an ihrem Vorhaben festhalten konnten, unverzüglich Richtung Don und Schachti weiterzuziehen. Generalmajor von Lanski, Kommandeur der 24. Panzerdivision, war froh um jeden neuen Mann. Die Feindbewegungen hatten massiv zugenommen. Der mit der zornigen Stimme fluchte unentwegt und versuchte Lanski davon zu überzeugen, dass es höchste Zeit sei abzuhauen, es sei nur noch eine Frage der Zeit, bis der Kessel von den Russen gespalten werde. Alles Fluchen half nichts. Lanski schrie zurück, dass er endlich die Klappe halten solle. Er wisse sehr wohl, dass Stalingrad das Grab seiner Division werde, aber er habe Befehl von ganz oben, die Stellung zu halten und unter keinen Umständen zu kapitulieren, und Befehl sei nun mal Befehl. Dann sagte er zu dem mit der zornigen Stimme, dass er und die Übrigen seiner Gruppe sich verpflegen lassen und sich ausruhen sollten. Am nächsten Morgen würde er sie alle in die Orowka­schlucht schicken, wo die Russen massivsten Widerstand leisteten, oder ihr eigener Widerstand gegen die Rotarmisten zu schwach sei – er wisse selber nicht, was genau der Wahrheit entspräche.
Während Lanski seiner Wut freien Lauf liess, hatte Josef das Gefühl, dass der unablässige Lärm des schweren Artillerie-, Granatwerfer- und Pakfeuers immer lauter wurde in seinen Ohren und ihm schwante Übles, wenn er daran dachte, dass sie eigentlich vom Regen in die Traufe gelangt waren. Ihr ganzer Fluchtversuch war umsonst gewesen und er musste sich allmählich eingestehen, dass der bigotte Angsthase doch Recht hatte: Sie würden nicht aus dieser Hölle rauskommen. Gott hatte sie verlassen und der Teufel führte sie geradewegs ins Verderben.
«Verdammte Scheisse!», begann jetzt auch mein Grossvater zu fluchen.
Wie Josef befürchtet hatte, war die Situation in der Orowkaschlucht bereits völlig verfahren, als sie dort ankamen. Die russische Artillerie wälzte sich wie ein Tsu­nami über die deutschen Stellungen und hinterliess ein Bild der Zerstörung und des Todes. Drei von den Männern, mit denen mein Grossvater und Prüggner die letzten Nächte und Tage verbracht hatten, wurden erschossen, drei weitere wurden verwundet und erfroren in der Schlucht, die von den Russen schon bald eingenommen war.
Prüggner, mein Grossvater, der mit der zornigen Stimme und die restlichen noch lebenden Deutschen und ihre Verbündeten gerieten am 5. Februar 1943 in russische Gefangenschaft.
«Das wars dann wohl», fluchte der mit der zornigen Stimme, als die erschöpften Männer dicht aneinander gepfercht im Schnee hockten und der Dinge harrten, die auf sie zukommen sollten.
Als dann ein russischer General ihnen garantierte, dass sie in der Gefangenschaft eine gute Behandlung erfahren würden, musste der mit der zornigen Stimme lachen und flüsterte meinem Grossvater ins Ohr, dass Stalingrad nur ein Vorgeschmack dessen sei, was sie in Sibirien erwarte. Des Weiteren versprach ihnen der General gute Verpflegung, das Behalten der Privatsachen und eine sofortige Rückkehr in die Heimat nach Kriegsende.
«Was für eine Scheisse», zeterte der mit der zornigen Stimme erneut, «wie wollen die uns denn verpflegen, wenn sie schon nicht fähig sind, die eigenen Leute zu versorgen! Die fressen sich ja gegenseitig auf. Alles gelogen. Der verspricht uns das Blaue vom Himmel und gleichzeitig überlegt er sich, in welchem Waldstück sie uns massakrieren und verbuddeln sollen. Verdammte Riesenscheisse!»
Josef und Prüggner schwiegen und wussten in diesem Moment, dass der mit der zornigen Stimme Recht hatte. Wenige Stunden später marschierten die Gefangenen los Richtung Norden. Der russische Winter wurde immer erbarmungsloser und schon nach einer Stunde fielen die ersten Deutschen hin und blieben im Schnee liegen. Prüggner, mein Grossvater und der mit der zornigen Stimme konnten froh sein, dass sie mehrere Schichten Kleider auf ihren ausgemergelten Körpern trugen. Viele waren der Anstrengung nicht mehr gewachsen und gingen stetig langsamer, was zur Folge hatte, dass sie mit Kolbenschlägen und Fusstritten traktiert wurden, bis sie entweder zu Boden fielen und erfroren oder das Tempo wieder zu halten versuchten, um dann wenig später zum letzten Mal hinzufallen. Der Gefangenentrupp wurde von Beginn weg von Zivilisten begleitet, die wie Aasgeier darauf warteten, dass der eine oder andere liegenblieb. Dann wurden die Sterbenden von ihnen gefilzt und ihrer Habseligkeiten beraubt.
Josef, der zwischen Prüggner und dem mit der zornigen Stimme schritt, sagte den beiden mit weinerlicher Stimme: «Freunde, das wird keiner von uns überstehen. Diese eisige Steppe wir auch unser Grab werden.»
Die beiden anderen wussten, dass mein Grossvater Recht hatte. Die russische Steppe war endlos, und weit am Horizont, wo sich Himmel und Steppe berührten, sah mein Grossvater eine einzelne Birke stehen, die dem ewigen Wind trotzte, obwohl er ihre Äste immerfort brach und sie ständig durchrüttelte. Was trieb wohl diesen Baum an, in dieser trostlosen Öde aufrecht zu stehen, fragte sich mein Grossvater.
Nach stundenlangem Marschieren erreichten die Gefangenen Gorodischtsche. Es war schon fast wieder dunkel und kurz vor dem Ort begannen die Russen sie anzuschreien und von der Strasse zu drängen. Prüggner, der schon beim ersten Russlandfeldzug dabei war und ein wenig Russisch sprach, sagte seinen beiden Kumpels, dass sie von der Strasse runter müssten, weil ein russischer motorisierter Verband aus nördlicher Richtung die Landstrasse für sich beanspruchte. Prügg­ner, Josef und der mit der zornigen Stimme stellten sich an den Wegrand in den tiefen Schnee und liessen die heranrückenden Lastwagen vorbeifahren. Plötzlich hielt einer der Lastwagen genau neben den Männern an.
«Verdammte Scheisse, was ist jetzt los?», fragte der mit der zornigen Stimme. «Will der uns etwa aufladen?»
Es war inzwischen so dunkel geworden, dass man den nachfolgenden oder den vorausfahrenden Laster kaum erkennen konnte, obwohl sie nur fünfzig Meter von ihnen entfernt waren. Aus irgendeinem Grund musste die Kolonne anhalten. Die drei Männer sahen einander an und wussten sofort, dass ihnen derselbe Gedanke durch die Köpfe ging. Prüggner schlich sich an den Lastwagen heran, hob die Plane und spähte hinein. Dann kletterte er ins Fahrzeug, winkte die beiden anderen herbei und zerrte sie auf die Ladefläche. Sie krochen hinter die Kisten und Säcke, mit denen das Fahrzeug beladen war, und warteten. Sie getrauten sich kaum zu atmen. Zehn Minuten später setzte sich der Lastwagen wieder in Bewegung.
Total erschöpft schliefen die drei Männer schon bald ein. Ein heftiger Ruck riss die drei Unglücklichen aus dem Schlaf, den sie so bitter nötig hatten. Sie hörten, wie draussen einer Befehle erteilte und mein Grossvater hob vorsichtig die Seitenfläche der Plane, hinter welcher die Stimmen zu vernehmen waren.
«Ihr werdet es kaum glauben, Männer, aber die laden die Fahrzeuge auf einen Güterzug», flüsterte Josef nach hinten.
Er kroch wieder zurück zu den beiden andern, wo sie sich ruhig verhielten und abwarteten. Der Hunger machte sie beinahe besinnungslos und die Ungewissheit, wohin es sie verschlagen würde, schürte ihre Angst noch zusätzlich. Die Angst war ihr treuester Begleiter.
Nach etwa fünfzehn Minuten waren die Lastwagen alle auf dem Güterzug, welcher nach heftigen Rangierbewegungen endlich losfuhr. Der mit der zornigen Stimme schaute auf seinen Marschkompass und sagte seinen Kameraden, dass es zu ihrem Glück weiter nach Süden ging. Die drei Flüchtenden atmeten auf und begannen sodann, die geladene Fracht nach etwas Essbarem zu durchsuchen. Der mit der zornigen Stimme fand einen Sack voll Trockengemüse und fluchte vor lauter Freude leise vor sich hin. Sie kauten das steinharte Zeug, bis ihnen Zähne und Kiefer schmerzten. In einer anderen Kiste, die sie aufbrachen, fanden sie zu ihrer Freude Waffen und Munition. Dieser Umstand beruhigte sie ungemein und die Männer schauten einander lächelnd an.
Der Zug fuhr eine gefühlte Ewigkeit lang durch die vereiste Steppe, bis er plötzlich anhielt. Die Männer spähten nach draussen und sahen etliche Rotarmisten ihr Wasser lassen oder ihre Notdurft verrichten. Kurz darauf ging es weiter, langsam und ruckelnd. Als mein Grossvater später erneut unter der Plane hindurch blickte, sah er einen scheinbar endlos langen Treck deutscher Gefangener, die entlang den Gleisen Richtung Norden marschierten. Als der Treck vorüber war, zeugten nur noch die gefrorenen Körper erschöpfter Gefangener vom Marsch der Verdammten, die wie schwarze Flecken auf dem endlosen Weiss lagen.
Als der Zug endlich sein Bestimmungsziel erreicht hatte und anhielt, stieg bei den drei Flüchtenden die Nervosität merklich an. Zu ihrem Glück war die Nacht hereingebrochen und die Dunkelheit bot ihnen genügend Schutz, um vom Lastwagen hinunterzuklettern und unbemerkt auf die Geleise zu springen. Die Russen waren bereits damit beschäftigt, den Güterzug zu entladen und bemerkten die drei Gestalten nicht, die schemenhaft durch die Dunkelheit am Rand der Geleise eine Böschung hinauf verschwanden. Der Schnee lag knietief und erschwerte das Vorwärtskommen beträchtlich. Die drei Männer kollerten auf der anderen Seite der Böschung hinunter und landeten auf einem schmalen Karrenweg. Der mit der zornigen Stimme konsultierte seinen Marschkompass und hiess die beiden anderen, ihm zu folgen. Der Weg führte nach Süden und schon bald erreichten sie den Rand eines Waldes, in den sie sofort verschwanden und in dessen Schutz sie weiter nach Süden gingen. Sie stapften durch das Gehölz, bis sie völlig erschöpft im Morgengrauen eine verlassene Kate entdeckten.
Das heruntergekommene kleine Bauernhaus machte einen erbärmlichen Eindruck. Aber das spielte nun wirklich keine Rolle und die drei Männer waren überglücklich, sich endlich etwas ausruhen zu können.
«Einer von uns muss wach bleiben. In dieser Gegend treiben russische Partisanen ihr Unwesen – überaus unangenehme Zeitgenossen», sagte der mit der zornigen Stimme.
Mein Grossvater übernahm die erste Wache, während sich die beiden anderen aufs Ohr hauten. Vorher teilte der mit der zornigen Stimme den beiden anderen noch mit, dass sie ungefähr achtzig Kilometer vom Don entfernt sein müssten, das wisse er, weil der Zug in Wolzno Donetzkaja gehalten habe. Prüggner und Josef glaubten ihrem Kameraden und waren insgeheim froh, dass der mit der zornigen Stimme das Kommando führte. Er schien sich in der Gegend erstaunlich gut auszukennen.
Während mein Grossvater Wache schob, fragte er sich, ob sie es bis zum Don schaffen würden, achtzig Kilometer zu Fuss durch Schnee und Kälte in feindbesetztem Gebiet, wo zu allem Übel noch Partisanen ihr Unwesen trieben. Leise fluchend suchte er die Umgegend mit dem Fernglas ab, das ihm der mit der zornigen Stimme gegeben hatte. Sie hatten genug Trockengemüse mitgehen lassen, um nicht zu verhungern. Leider konnten sie es nicht aufkochen, sie wollten unter keinen Umständen Rauch erzeugen, der weit herum sichtbar wäre. Sie weichten es in kaltem Wasser auf und liessen sich das Gemüsemus schmecken.
Sie verbrachten einen weiteren Tag in der Kate, um wieder zu Kräften zu kommen. Am dritten Tag – die drei waren gerade damit beschäftigt, ihre Sachen zusammenzupacken – hörten sie Motorenlärm, der sich ihrem Versteck näherte. Es waren vier Partisanen, die auf einem erbeuteten deutschen Wehrmachtswagen hockten. Prüggner und der mit der zornigen Stimme brachten sich an den beiden Fenstern in Stellung, während mein Grossvater nach oben ging und dort Stellung bezog.
Die Partisanen hatten keine Chance. Als sie bis auf etwa zwanzig Meter herangekommen waren, eröffneten die drei das Feuer und mähten sie kurzerhand nieder. Der Wehrmachtswagen scherte nach links aus und fuhr führerlos weiter und kam schliesslich mit laufendem Motor im tiefen Schnee zum Stehen.
«Heilige Scheisse!», fluchte der mit der zornigen Stimme, «Gott schickt uns ein Fahrzeug, verdammte Scheisse, haben wir ein Glück.»
Die drei liefen nach draussen, stellten den Motor des Wagens ab und filzten die Toten. Sie packten alles Brauchbare ein, vor allem die weissen Overalls, die die Partisanen trugen – und natürlich die Waffen und die Munition. Prüggner überprüfte den Kraftstoff und stellte mit Freude fest, dass der Tank beinahe voll war. Sie verloren keine Zeit und brachen schon kurz nach dem Gemetzel auf. Prüggner setzte sich hinter das Steuer und zirkelte den Wagen gekonnt aus dem tiefen Schnee zurück auf den Karrenweg. Bei der nächsten Verzweigung hielten sie sich nach Westen Richtung Tsdzjekalow, von wo sie weiter nach Kolzow und zum Don fahren wollten.
Bei einem der erschossenen Partisanen fand Josef eine Karte der Gegend, die ihnen von unbeschreiblichem Nutzen war. Zusammen mit dem Marschkompass hatten die drei Männer, die inzwischen die weissen Kampfanzüge der Partisanen über ihre Uniformen angezogen hatten, eine wahrlich vortreffliche Ausrüstung. Sie fühlten sich seit langer Zeit wieder einmal sicher. Dass sie es bis hierher geschafft hatten, war in ihren Augen gottgewollt, es war ein Akt Gottes, denn das Unmögliche war möglich geworden. In diesem Moment glaubten alle drei an das Wunder, das sie aus Stalingrad gebracht hatte und das sie bestimmt wohlbehalten über den Don bis nach Schachti bringen wird.
Sie gelangten ohne nennenswerte Zwischenfälle nach Kolzow, von wo es noch fünfundzwanzig Kilometer bis zum Don waren. Mein Grossvater begann sich langsam zu wundern, dass ihnen weder Rotarmisten noch Partisanen begegneten. Nur ein paar Zivilisten, die auf einem Schlitten Brennholz nach Hause zogen und ihnen ihr ganzes Leid zuschrien, kreuzten sie als Letzte auf ihrer Odyssee, die sich langsam ihrem Ende zuneigte. Als ihnen das Benzin ausging, fluchte der mit der zornigen Stimme und meinte, dass der Fluss höchstens noch vier Kilometer entfernt sein könne. Sie packten ihre Sachen und stapften erneut durch den Schnee Richtung Süden. Vor ihnen lag eine leichte Anhöhe und dahinter eine weitere. Nachdem sie nach dieser die nächste Anhöhe mühsam erklommen hatten, vermeinten sie am Horizont ein sich dahin schlängelndes schwarzes Band in der endlos weiten Steppe zu erkennen.
«Männer, das könnte der Don sein», sagte der mit der zornigen Stimme, während er sein Fernglas Prüggner gab, der seine Annahme bestätigte und das Fernglas meinem Grossvater weiterreichte. «Wir warten, bis es eindunkelt und schlagen uns dann zum Fluss durch», schlug der mit der zornigen Stimme vor und hiess seine Kameraden, sich noch einmal in das nahegelegene Wäldchen zurückzuziehen und die Nacht abzuwarten.
Es war tatsächlich der Don, dessen Uferböschungen mit Hecken und Bäumen bewachsen waren. Der Fluss hatte sich im Laufe der Zeit etwa fünf Meter tief in das Gelände hineingefressen, auf beiden Seiten war er zugefroren, nur in der Mitte war er eisfrei. Zu ihrem Entsetzen machten die drei Flüchtenden auf beiden Seiten des Flusses russische Soldaten auf ihren Pferden aus, die entlang der Ufer patrouillierten. Wie die Zentauren den Blutstrom Phlegethon bewachen und mit ihren Pfeilen auf die Sünder schiessen, die sich zu sehr aus dem siedenden Blut erheben, so ritten die mit Maschinengewehren bewaffneten Reiter den Don auf und ab und schossen auf alles, was ihnen verdächtig vorkam.
«Verdammte Scheisse!», fluchte der mit der zornigen Stimme, «wie sollen wir nur über diesen Scheissfluss kommen? Keine Brücke weit und breit, dafür überall Sowjets.»
In der Ferne waren das unaufhörliche Donnern der Artillerie, das Bellen der Maschinengewehre, der Motorenlärm unzähliger schwerer Fahrzeuge und das höllische Konzert der Stalinorgeln zu hören.
«Männer, die Hauptkampflinie hat sich nach Süden verlagert», bemerkte Prügg­ner, was den mit der zornigen Stimme nur noch mehr zu fluchen veranlasste.
Kurze Zeit später beobachteten sie am jenseitigen Ufer ein paar russische Fahrzeuge, die zielstrebig alle in dieselbe Richtung fuhren.
«Los, Männer, wir schlagen die gleiche Richtung ein, ich habe das starke Gefühl, dass die Kolonne einer Brücke entgegenfährt, verdammte Scheisse!», fluchte der mit der zornigen Stimme und machte sich auf den Weg.
Die beiden anderen folgten ihm schweigend. Sie beobachteten anhand des Lichts, das die Scheinwerfer erzeugten, wie die Fahrzeuge plötzlich scharf nach links abbogen und in eine völlig andere Richtung weiterfuhren.
«Da muss eine Brücke sein, Männer», sagte der mit der zornigen Stimme und stapfte weiter voran durch den Schnee.
Da war tatsächlich eine Brücke, die über den Fluss führte und auf beiden Seiten von den Russen streng bewacht wurde.
«Himmelherrgott nochmal, das darf doch nicht wahr sein! Männer, wir haben ein ernsthaftes Problem. Fortuna scheint sich von uns abgewandt zu haben. Ich warte auf konstruktive Vorschläge.»
Der mit der zornigen Stimme setzte sich in den Schnee und stierte seine Kameraden an, als ob er sich am Mittelpunkt der Erde befände und soeben das Orakel von Delphi um Rat gefragt hätte. Josef und Prüggner sahen sich ratlos an.
«Ich warte, Himmelherrgott nochmal!», schrie der mit der zornigen Stimme.
Die beiden andern hiessen ihn vehement mit dem Schreien aufzuhören. Sie hätten ja schliesslich nichts an den Ohren und sein Gezeter würden die Russen bestimmt hören, hier in dieser Scheissebene. Der mit der zornigen Stimme hielt inne und liess den Kopf hängen. Die drei sassen in ihren weissen Overalls im Schnee und schwiegen einander an. Es begann wieder leicht zu schneien und die Sicht wurde beträchtlich schlechter. Sie kauten ein wenig Trockengemüse und beobachteten unentwegt die Brücke, die so nah vor ihnen lag und doch unerreichbar zu sein schien.
Minuten später ergriff mein Grossvater Josef das Wort, indem er also sagte: «Wir können hier sitzen bleiben und erfrieren oder wir ergeben uns und gehen in russische Gefangenschaft.»
Nach abermaligem Schweigen ergriff Prüggner das Wort: «Wir ziehen unsere Kleider aus, binden sie mit unseren Sachen zu einem Knäuel zusammen und schwimmen durch den Fluss.»
Der mit der zornigen Stimme traute seinen Ohren nicht und fluchte leise vor sich hin, bis er das Wort an seine Kameraden richtete: «Na prima Männer, verdammte Scheisse, habt ihr völlig den Verstand verloren, ich hoffe, das habt ihr nicht ernst gemeint. Hier mein Vorschlag: Wir warten vorerst ab und hoffen auf ein weiteres Wunder.»
Eine Stunde später, während derer nichts Nennenswertes geschehen war, schlug mein Grossvater vor, so nahe wie möglich zur Brücke zu schleichen. Mit ihrer weissen Bekleidung seien sie so gut wie unsichtbar auf dem weissen Untergrund. Die beiden andern stimmten ihm zu und sie setzten sich zunächst in geduckter Haltung, später auf allen Vieren in Bewegung und zum Schluss robbten sie durch den trockenen Schnee, der inzwischen dichter fiel und das dumpfe Grollen aus der Ferne merklich dämpfte.
Sie lagen bäuchlings keine fünfzig Meter vom diesseitigen Kontrollpunkt im Schnee und wussten nicht, wie es weitergehen sollte. Regungslos wie Tiere auf der Lauer warteten sie. Der mit der zornigen Stimme schaute durch sein Fernglas und fluchte leise vor sich hin. Als er hinter sich Motorenlärm wahrzunehmen glaubte, drehte er sich langsam um die eigene Achse und suchte die Umgegend ab. Das Schneegestöber trübte die Sicht und es dauerte eine Zeitlang, bis er die Scheinwerfer einer sich nähernden Fahrzeugkolonne ausmachte. Es machte den Anschein, dass die Kolonne beabsichtigte, den Fluss zu queren.
«Männer, da kommt unser Wunder», flüsterte der mit der zornigen Stimme, ohne das Fernglas runterzunehmen. «Das wird unsere einzige Chance sein, verdammt noch mal! Wir klettern auf den hintersten Lastwagen, überqueren den Fluss und lassen uns Richtung Hauptkampflinie fahren.»
Der mit der zornigen Stimme lächelte und reichte das Fernglas meinem Grossvater, der, kaum hatte er die Lastwagen erblickt, auch lächelte und das Fernglas Prüggner reichte, der es ihnen gleichtat. Vor der Brücke staute sich die Kolonne. Im Abstand von zirka fünfzig Metern fuhren eins nach dem andern der schweren Fahrzeuge über die Brücke. Die drei Männer waren inzwischen bis an die Strasse herangeschlichen und warteten, bis sie das letzte Fahrzeug passiert hatte. Die Wagen fuhren im Schritttempo, und es war für die Flüchtenden ein Leichtes, im Schneegestöber und im Dunkel der Nacht unbemerkt auf den Wagen zu
klettern.
Dummerweise sassen auf der Ladefläche zwischen allerlei Kisten zwei Sowjets, die ihren Augen nicht trauten, als sich die drei weiss gekleideten Männer gegenseitig auf den Wagen halfen, glaubten jedoch sofort, dass es sich um Russen handelte. Wie vorher abgesprochen, begann nun nicht der mit der zornigen Stimme zu fluchen, sondern Prüggner – und zwar auf Russisch. Er leierte die russischen Fluche herunter, derer er mächtig war, gestikulierte mit den Armen und näherte sich im Halbdunkel des Wageninnern den beiden Sowjets, die verdutzt mit offenen Mäulern auf den Kisten hockten. Prüggner fluchte und schaute sich auf der Ladefläche um, während der mit der zornigen Stimme sich ebenfalls den Russen näherte. Als die beiden nahe genug vor den sitzenden Russen standen, die inzwischen ebenfalls begannen herumzuzetern und Anstalten machten, sich von den Kisten zu erheben, schlugen Prüggner und der mit der zornigen Stimme mit ihren Gewehrkolben auf die beiden ein, bis sie besinnungslos zwischen den Kisten niedersanken und liegenblieben. Den Rest verpasste ihnen dann der mit der zornigen Stimme. Die drei bekreuzigten sich und begannen die Russen zu entkleiden.
Später warfen sie die Leichen vom Wagen. Die Kolonne ruckelte langsam in südwestlicher Richtung der Hauptkampflinie entgegen. Ab und an leuchtete der Mond schwach zwischen den Wolken hervor. Das Licht einer Öllampe reichte knapp aus, um die Ladung zu untersuchen. Da waren vor allem Munition und Handfeuerwaffen, aber auch technische Geräte und Feldgeschirr – aber nichts zu essen. Notgedrungen kauten die drei auf ihrem Trockengemüse herum, das langsam aber sicher zur Neige ging.
«Ich habe das widerliche Zeug allmählich satt», begann der mit der zornigen Stimme schon wieder zu fluchen.
Das Donnern und Grollen, das die Kampfhandlungen an der Front erzeugten, wurden zusehends lauter und am Horizont konnte mein Grossvater die höllischen Lichter des Krieges erkennen, als er unter der Plane hindurch spähte. Der Horizont brannte.
Die Hauptkampflinie zog sich über viele Kilometer von Osten nach Westen. Wie würden sie nur durch diese Zone des Todes unversehrt hindurch kommen, fragte sich mein Grossvater. Und was würde mit ihnen geschehen, wenn sie es tatsächlich bis nach Schachti schafften, das, wie er hoffte, immer noch in deutschen Händen war. Er fragte sich überhaupt unentwegt, was ihm die unmittelbare Zukunft wohl bringen würde. War es das alles überhaupt wert? All die Strapazen, die sie auf sich nahmen, waren sie es wert? In Anbetracht dessen, dass der Ausgang ihrer Odyssee nach wie vor ungewiss war – und ebenso der dieses ganzen Krieges. Und was war ihnen das Leben eines Menschen wert? Das der Partisanen oder das der beiden Sowjets? Nichts – oder aber ihr eigenes Leben – ihr Leben gegen das eines andern. Was war das Leben eines Menschen überhaupt wert? In Zeiten des Krieges wohl weniger als in Zeiten des Friedens. Was war sein eigenes Leben wert? In den Augen seiner geliebten Frau und seiner Kinder bestimmt mehr als in den Augen Hitlers. In diesem Moment fühlte sich Josef so wertlos wie nie zuvor in seinem Leben. Und auch für seine Familie, die in diesen üblen Zeiten doch auf ihn angewiesen war, war er von keinem Nutzen, war er wertlos, solange er hier im Nirgendwo auf einem Lastwagen hockte.
Wie viel sind ein Mensch, eine ganze Division, ein ganzes Heer den Mächtigen dieses Krieges wert? Nichts. Ohne mit der Wimper zu zucken, führt Hitler die ganze 6. Armee in den Tod, in die Vernichtung. Und Gott? Was ist Ihm, unserem Schöpfer, ein Mensch wert? Josef wusste es nicht, kam aber allmählich zu der Erkenntnis, dass der Mensch auch für Gott ein nutz- und wertloses Wesen sein muss. Und nicht nur der einzelne Mensch, nein, sogar die ganze Menschheit scheint keinen Wert für ihn zu haben. Gott hat weder Zeit für die Menschen, noch hat die Menschheit irgendeinen Nutzen für Gott. Warum sonst überlässt er sie ihrem Schicksal? Hilflos, wie sie sind. Er hat wohl anderes zu tun. Er hat das Interesse an unserer Welt verloren, zumindest an uns Menschen, die wir Ihn seit Anbeginn der Zeiten enttäuschen. Bestimmt hat er genug zu tun mit all den anderen Welten. Welten, an denen er Gefallen findet. Welten, die ihm bei der Schöpfung besser gelungen sind. Unsere Welt kann in ihrer offensichtlichen Unvollkommenheit ja nicht die vollkommenste, die perfekte, die ideale Welt sein. Auch wenn das viele Geistliche und Gelehrte behaupten. Die liegen eindeutig falsch mit ihrer Interpretation. Gott hat die Welt und damit die Menschheit schon lange verlassen. Unsere Welt driftet unaufhaltsam ins Chaos. Sollen sie sich doch selber den Garaus machen. Das ist doch das, was sie am besten können. Unsere Welt muss ihre Bedeutung für Gott verloren haben. Also ist auch der Mensch bedeutungslos. Ein Nichts.
Plötzlich spürte mein Grossvater in seiner Bedeutungslosigkeit, dass das Fahrzeug langsamer wurde. Sollte er dieser Tatsache keinerlei Beachtung schenken und seine Kameraden und sich selber ihrem Schicksal überlassen? Genau so wie es Gott mit der Menschheit tut. Nein! Es war eine Anmassung, sich mit dem Schöpfer zu vergleichen. Kein Mensch sollte das tun. Auch hier und jetzt nicht. Sofort weckte er seine beiden Kameraden. Schlaftrunken setzten sie sich auf und rieben sich die Augen.
«Männer, es ist an der Zeit, dieses Fahrzeug zu verlassen. Wir nähern uns den rückwärtigen sowjetischen Stellungen», sagte ihnen mein Grossvater.
Die Stalinorgeln spielten unermüdlich die Melodie des Todes. Die letzte Hürde stand ihnen bevor – sie mussten nur noch durch die Hauptkampflinie. Prüggner und der mit der zornigen Stimme zogen sich eine der deutschen Uniformen aus und schlüpften in die russischen. Darüber stülpten sie erneut die weissen Tarnanzüge. Eine reine Vorsichtsmassnahme, falls sie den Sowjets begegneten. Dann sprangen sie vom Lastwagen und hatten keine Ahnung, wo genau sie sich befanden. Die Front schien endlos lang zu sein. Das Feuerwerk des Krieges zog sich von einem bis zum andern Ende des Horizonts. Sie konnten unmöglich die Hauptkampflinie umgehen, sie mussten mitten durch sie hindurch.
«Männer, wir suchen uns eine Lücke, einen Abschnitt, wo wir unbemerkt hindurch schlüpfen können», sagte der mit der zornigen Stimme.
Die drei weissen Gestalten setzten sich erneut in Bewegung. Vor ihnen lag nicht nur ein gefährlicher, beschwerlicher Weg, sondern auch ein langer und ungewisser. Sie fanden schliesslich nach gefühlten Stunden einen Abschnitt, der wegen seines unwegsamen Geländes frei von Kampfhandlungen war. Hier beschlossen sie durchzubrechen. Die niederen Anhöhen und kleinen Täler, die wie Kerben in die endlosen Weiten von Gottes Hand eingeritzt schienen, boten den Flüchtigen genügend Schutz, um von den rückwärtigen russischen Stellungen unbemerkt ins Niemandsland vorzudringen.
Stunden später waren sie auf deutscher Seite. Prüggner und der mit der zornigen Stimme zogen sich bei eisiger Kälte bis auf die Unterwäsche aus und kleideten sich sofort wieder an, diesmal aber zuerst die russische und darüber die deutsche Uniform. Die weissen Tarnanzüge banden sie zu einem Bündel. Sie wollten doch jetzt, am Ziel ihrer beschwerlichen Reise, nicht von den eigenen Leuten für Russen gehalten und niedergeschossen werden. Sie gingen weiter in südwestlicher Richtung, kilometerweit, bis sie völlig erschöpft und durchgefroren auf deutsche Soldaten trafen, die mit Schanzarbeiten beschäftigt waren. Sie hatten Schachti erreicht. Endlich. Prüggner, Josef und der mit der zornigen Stimme umarmten einander und weinten hemmungslos vor Freude.