Flucht in die Wirklichkeit


Auszug aus dem neunundzwanzigsten Kapitel
Flucht in die Wirklichkeit

«Mein Gott! Wo bin ich da nur reingeraten!»
Wieder auf seinem Zimmer, betrachtete sich mein Grossonkel, auf den Zehenspitzen stehend, im Spiegel und sprach mit sich selber. «Die sind doch alle komplett derangiert. Die Franzosen wollen partout nicht wahrhaben, dass sie nicht mehr lange leben. Die sind felsenfest davon überzeugt, dass wir nur Quatsch erzählen.»
Er rieb sich mit den Händen die Wangen, dann fuhr er durch sein wirres Haar. Nachdem er sein Spiegelbild eine Zeitlang angestarrt hatte, schloss er die Augen und liess einen Seufzer fahren.
«Wenn du mich fragst, mein kleiner Freund, wird hier eine Menge Quatsch erzählt.»
Leopold öffnete die Augen, drehte sich und sah sich im Zimmer um. Im finstersten Winkel des Raums erkannte Leopold die Umrisse einer Gestalt am Schreibschrank sitzen. Mit den Fingern ihrer rechten Hand trommelte sie kaum hörbar auf die Schreibplatte, den Blick schien sie auf meinen Grossonkel gerichtet zu haben.
«Zugegeben, die Umstände, die uns alle hierher geführt haben, mögen gewiss seltsam erscheinen. Aber noch eigenartiger dünkt mich der Umstand, dass noch keiner der Anwesenden auf die Idee gekommen ist, sich zu fragen, ob das alles hier einem höheren Zweck dient. Und dieser höhere Zweck besteht nicht darin, irgendein verschwundenes Buch irgendwohin zurückzubringen, um irgendein Gleichgewicht wieder herzustellen, sondern nur darin, dass ich – Loki – endlich von meiner mythologischen Fessel befreit werde und in die Wirklichkeit gelange.» Es folgte eine kurze Pause, während derer Leopold sich der schemenhaften Gestalt näherte. «Und du, mein lieber Leopold, hilfst mir dabei. Diese Reise gelingt mir nur, wenn ich von einem richtigen Menschen begleitet werde. Von jemandem, der aus der Realität stammt, der wirklich existiert.»
Mein Grossonkel Leopold vermeinte zu spüren, dass von dieser Gestalt absolut keine Gefahr ausging. Gelassen näherte er sich ihr, bis er Lokis Gesichtszüge erkennen konnte. Er hatte ein langes, schmales Gesicht. Seine kleinen Ohren lagen unnatürlich eng an und die kurzen Haare waren schwärzer als schwarz. Die hohe Stirn und sein wacher Blick zeugten von Schlauheit und Intelligenz. Er trug einen eleganten anthrazitfarbenen Anzug.
«Brauche ich mich vor Ihnen zu fürchten?»
Leopold hatte sich inzwischen in einen Sessel gesetzt.
«Nein. Auf keinen Fall. Vor mir braucht sich hier niemand zu fürchten. Ich werde niemandem etwas tun. Ausgenommen den Zwergen, wenn es denn sein muss. Sollten die Franzosen wirklich sterben, dann nicht durch meine Hand.»
Loki lächelte und zeigte sein makelloses Gebiss.
«Wenn Sie es nicht tun, wer dann?»
«Keine Ahnung. Interessiert mich nicht.»
«Warum nur interessiert es hier keinen, was mit den Franzosen geschieht?»
Leopold erhob sich vom Sessel.
«Weil ihr Ober- und Unterirdischen in einer Wüste des Egoismus lebt. Jeder ist nur auf seinen eigenen Vorteil bedacht. Die anderen kümmern einen nicht.»
«Und was ist mit Ihnen? Werden nicht alle Ihre Taten von Egoismus gelenkt?»
Leopold setzte sich wieder.
«Natürlich. Damit ich mich wohlfühle, muss ich egoistisch sein und dementsprechend handeln.»
Jetzt erhob sich Loki und schritt bedächtig durch das Zimmer.
«Und Sie glauben, dass ich Sie begleite auf dem Weg in die Wirklichkeit?»
«Aber ja. Wenn du zurück in die Wirklichkeit willst, dann musst du mich begleiten.» Vor den grossen Fenstern machte Loki halt und schaute in den Nebel hinaus. «Und das willst du doch, zurück in die Wirklichkeit?»
«Ja, sicher.»
«Und glaubst du, dass dich die Zwerge dereinst ziehen lassen? Zurück zu den Oberirdischen?»
«Ich denke schon.»
«Du bist naiv wie alle Menschen. Erdlinge lassen keine Oberirdischen zurück in ihre Welt.»
«So was in der Art haben sie mir auch schon gesagt. Aber bei mir würden Sie vielleicht eine Ausnahme machen.»
«Eine Ausnahme machen!? Vielleicht!? – Das klingt nicht sehr vertrauenerweckend. Haben diese eingebildeten Winzlinge erst mal ihr Buch, bist du für sie weder von Nutzen noch von Bedeutung. Sie werden dich fallenlassen, genauso wie du deine literarischen Figuren fallengelassen hast. Gut nur, dass sie das Buch nicht finden werden. Noch nicht.»
«Warum sollte ich Ihnen glauben? Ihnen, einem umtriebigen Intriganten und Unruhestifter?»
«Haben dir das diese selbstgefälligen kleinen Kerle erzählt?» Loki setzte sich wieder und schlug die Beine übereinander. «Allmählich wird es höchste Zeit, dass ich dir von meiner wahren Natur erzähle.»
«Von Ihrer wahren, verkehrten Natur haben mir die Kirchberger Erdleute und Alwis schon mehr als genug erzählt.»
«Soso, haben sie das. Als ob sie mich kennen würden. Nicht mal die Götter kennen mich, geschweige denn Alwis, dieser potthässliche Gnom, der sich anmasst, über alles und jeden Bescheid zu wissen.»
Loki machte eine abschätzige Handbewegung.
«Alwis hat einen besonderen Draht zu dem Wesen. Es füttert ihn mit allerlei Wissenswertem.»
«Das Wesen füttert jeden, der mit ihm in direkten Kontakt tritt, mit allerlei Wissenswertem. Auch ich habe viel von ihm gelernt. Und das, obwohl ich es bestohlen haben soll.»
«Sie haben die Unterirdischen bestohlen, nicht das Wesen. Das Wesen haben Sie verletzt.»
«Nenn es, wie du willst.»
«Es gibt ein zweites, identisches Buch.»
«Ich weiss. Alwis hat es sich ergaunert.» Loki erhob sich erneut und schritt durch Leopolds Zimmer. «Er hat gut daran getan, es hierher mitzunehmen. Ohne das Buch würdet ihr niemals wieder von hier wegkommen.»
«Wo haben Sie das gestohlene Buch versteckt?»
«Das wirst du noch früh genug erfahren.»
«Warum wollen Sie in die Wirklichkeit?»
«Weil ich die Schnauze voll habe. Dieser ganze mythologische Quatsch inte­ressiert mich nicht mehr. Ich habe meine Rolle zu Ende gespielt, und jetzt ist es höchste Zeit zu verschwinden.»
«Und die Flucht in die Realität kann Ihnen nur gelingen, wenn ich Sie
begleite.»
«Richtig. Ich brauche dazu einen stichhaltigen Bezug zu dem Ort, wo ich hin will. Quasi einen Bezugspunkt. Und der bist du, mein lieber Leopold. Du kannst mich übrigens Loki nennen.»
«Ich bin noch nicht so weit, Sie als Duzbruder zu betrachten.»
«Dann lass dir Zeit.»
«Und ich kann mich nicht entsinnen, mit Ihnen Brüderschaft getrunken zu haben.»
«Ach Leopold, mein Freund, ihr Menschen macht es euch immer unnötig kompliziert.»
«Ich bin nicht Ihr Freund.»
«Noch nicht, mein Kleiner, noch nicht.»
«Und nennen Sie mich nicht mein Kleiner.»
Für einen kurzen Moment herrschte Schweigen. Loki entlastete sein rechtes Bein und schlug es über sein linkes. Mein Grossonkel Leopold rieb sich erneut die Augen.
«Nachdem ich realisiert habe, dass mit den Franzosen irgendetwas nicht stimmt, dass sie – wie wir jetzt wissen –, nicht existent waren bis zum Zeitpunkt ihres Erscheinens hier auf der Brücke, glaubte ich meinen Plan in ernsthaften Schwierigkeiten, war ich doch überzeugt davon, dass sie Menschen seien wie du und mich in die Wirklichkeit bringen werden.»
«Die Franzosen meinen zu wissen, dass wir alle hier inexistent sind, dass wir alle literarischen oder mythologischen Ursprungs sind.»
«Ich weiss. Ich habe eure Gespräche belauscht. Überhaupt habe ich die Franzosen von Beginn weg belauscht. Ich war ja der Erste, der hier angelangt ist. Alle anderen kamen nach mir.»
«Und wie sind Sie hierher gekommen?»
«Auf dieselbe Art und Weise wie ihr. Nachdem mir die Flucht aus meinem unterirdischen Verlies gelungen war, fand ich das Wesen. Ich verbrachte eine Menge Zeit bei ihm. Es konnte in meinen Kopf eindringen und zeigte mir die Vorzüge des Menschseins. Ich war begeistert und wollte wissen, ob es möglich sei, in die Wirklichkeit zu gelangen und ein Leben als Mensch zu führen.»
«Und das Wesen hat Ihnen gesagt, dass es möglich ist?»
«Richtig. Es liess mich hierher gelangen, im Wissen, dass auch du schon bald hier eintreffen wirst. Alles läuft anscheinend nach Plan. Es hat mir vorgeschlagen, es vorübergehend in seiner Makellosigkeit zu beeinträchtigen, indem ich das Buch aus dem Glaskasten der Bibliothek der Unterirdischen stehle. Und das habe ich dann auch getan. Es war ein Leichtes für mich, das Buch an mich zu bringen.»
«Das glaube ich Ihnen gern.»
«Ich verwandelte mich in Madame Crussol d’Uzès und gab mich als eine der Verlorenen aus. Natürlich habe ich mir deine Geschichten aus den Mündern derjenigen angehört, die sie den Herren Guillaume und Hugo erzählt haben. Und ich muss sagen, mein lieber Leopold, du bist mit einer überschäumenden Fantasie gesegnet. Ich legte mir inzwischen eine formidable Biografie zu, für den Fall, dass auch ich einer Befragung unterzogen würde. Dank eurem Erscheinen ist dies aber nicht eingetroffen.»
«Warum haben Sie Bruder Hugo niedergeschlagen?»
Anscheinend fand Leopold erneut grossen Gefallen daran, seinen Gesprächspartner mit Fragen zu löchern.
«Bruder Hugo ist ein widerlicher Fettsack. Aber das muss ich dir nun wirklich nicht erzählen, du hast ihn ja geschaffen. Auf jeden Fall hatte ich allmählich das Gefühl, dass er mir auf die Schliche kommt. Und der Umstand, dass er sich auf der Brücke immer mehr in die Richtung vorwagte, wo ich das Buch versteckt habe, liess mir schliesslich keine andere Wahl, als ihn zu stoppen. Natürlich konnte ich das nicht als die Person Oceane Crussol d’Uzès tun, also wandelte ich meine Gestalt in einen feurigen Hengst und versetzte dem Dickwanst einen nicht zu harten Hufschlag an den Kopf.»
«Ihre zurechtgelegte Geschichte würde mich interessieren.»
«Ich werde sie dir gerne erzählen. Aber erst, wenn wir in der Wirklichkeit angekommen sind.»