Der Vatikan und das Meer


Auszug aus dem achtundzwanzigsten Kapitel
Der Vatikan und das Meer

Während der vier Wochen in Rom logierten wir in einem einfachen Mittelklasse-Hotel, wo wir zwei geräumige Zimmer belegten, die durch eine Tür miteinander verbunden waren. Jeden Morgen frühstückten wir ungesalzenes Brot, das wir mit stark gesalzener Butter bestrichen. Auf die Frage, warum das Brot nach nichts schmeckt, bekam ich von Quinten zur Antwort, dass Salz nicht nur teuer sei, sondern auch die Feuchtigkeit anziehe, die das Brot schon nach wenigen Tagen schimmelig und ungeniessbar mache. Quinten hatte wirklich auf alles eine Antwort. Das beeindruckte mich sehr und ich beschloss, genauso zu werden wie Quinten und über alles Bescheid zu wissen. Inzwischen habe ich mir einiges Wissen angeeignet, aber meinen Verstand zu gebrauchen habe ich zu keiner Zeit richtig gelernt, im Gegenteil, mitunter habe ich das starke Gefühl, dass ich vor lauter Wissensdrang langsam verblöde.
Dem italienischen Frühstück konnten wir Kinder nicht viel abgewinnen, dafür umso mehr den Teigwaren, der italienischen Pasta. Jeden Tag assen wir Spaghetti, Makkaroni, Tagliatelle, Cannelloni, Tortellini oder andere Pasta. Es war herrlich. Und weil es für Kinder in unserem Alter äusserst schwierig ist, sich Pasta lunga derart einzuverleiben, ohne dabei herumzukleckern, dauerte es nicht lange, bis uns Quinten einen Crashkurs im Spaghettiessen gab. Er band sich für einmal die grosse Stoffserviette, die er für gewöhnlich während der Malzeiten auf seinen Oberschenkeln liegen hatte, eigens für diese Darbietung gehobener Esskultur um den Hals und zeigte uns, wie man Spaghetti nicht isst. Wie ich später herausfinden sollte, spielte Quinten mit seiner lustigen Nummer auf die wohl beliebteste Essszene des italienischen Kinos an: die Spaghetti-Szene aus dem 1954 erschienenen Film Ein Amerikaner in Rom mit Alberto Sordi. Anstelle einer Baseballkappe wie Sordi trug Quinten einen Sommerhut. Aber ansonsten musste ihm die Nachahmung gut gelungen sein, denn einer der vorübereilenden Kellner liess die Worte Ah, Papà mangia come Alberto Sordi fallen. Tatsächlich schaufelte Quinten die langen Nudeln mit weit aufgerissenen Augen in sich hinein, als hätte er seit mehreren Tagen nichts mehr gegessen.
Wir amüsierten uns köstlich und konnten es nicht lassen, unseren Vater nachzuahmen. Das missfiel aber unserer Mutter, weil sie grossen Wert auf Tischmanieren legt, und es dauerte nicht lange, bis sie uns massregelte. Sie hiess uns damit aufzuhören, wie die Schweine zu essen, uns wieder aufrecht hinzusetzen und die Speisen zum Mund und nicht den Mund zum Teller zu führen. Mit vollen Mündern schauten wir zu Quinten auf, der gerade geräuschvoll seine letzten Spaghetti hochschlabberte, und prusteten alle gleichzeitig los.
«Und morgen zeige ich euch, wie man eine Ribollita isst.»
«Was ist eine Ribollita?», wollte meine ältere Schwester Lou wissen und versuchte, mit der Serviette ihren verschmierten Mund sauber zu kriegen.
«Das ist eine toskanische Brotsuppe. Schmeckt wunderbar.»
Quinten nahm sich die Serviette vom Hals und bestellte sich und unserer Mutter einen Espresso.
«Du willst uns zeigen, wie man Suppe isst? Das kann doch nicht dein Ernst sein.»
«Oh doch. Eine Ribollita zu essen, ist etwas ganz Besonderes.»
Quinten lächelte uns an, als wollte er uns veräppeln.
«Und warum soll das etwas Besonderes sein?»
«Weil man eine Ribollita ohne Löffel isst.»
«Erzähl den Kindern keinen Unsinn!», mischte sich Mutter ein.
Eine Ribollita bekamen wir am nächsten Tag nicht vorgesetzt. Wir fuhren ans Meer. Und wenn man ans Meer fährt, isst man keine Ribollita, sagte Quinten, dann isst man Meeresfrüchte. Er legte grossen Wert darauf, dass wir Kinder von allem assen, was die Natur und das Meer hervorbringen.
«Kinder, am Meer essen die Menschen hauptsächlich die Früchte des Meeres, und auf dem Land ernährt man sich von dem, was das Land hervorbringt.»
Während er uns das sagte, studierte er die Speisekarte und bestellte schliesslich eine Poseidonplatte. Wir assen in einem netten kleinen Restaurant in einem malerischen Dorf fernab des Touristenrummels zu Mittag. Zuvor sonnten wir uns an einem nahegelegenen Strand, bauten unter Quintens Regie Sandburgen, spielten Ball und wagten uns ab und an ins oder nahe ans Wasser. Es war schon sehr beeindruckend, diese gewaltige Menge salzigen Wassers, deren Wellen unermüdlich mit lautem Tosen heranrollten, sich schliesslich brachen und unablässig den Strand leckten wie ein riesenhafter Organismus. Quinten hatte uns während der Fahrt ans Meer erzählt, dass selbiges nicht nur erfüllt sei von Fischen und anderem Meeresgetier, sondern auch die Heimat sei für allerlei Wassergeister. So würden in den Tiefen des Ozeans zum Beispiel der bösartige Wassermann, die gutmütige Wasserfrau, Nixen, Nymphen, Sirenen, Meerjungfrauen oder Nereiden hausen. Er erzählte uns von Riesenkraken, giftigen Quallen, Seeigeln und dem schlimmsten aller Meeresungeheuer, dem Leviathan, einem gigantischen Mischwesen mit Zügen eines Krokodils, einer Schlange, eines Wals und eines Drachens – ein Ungeheuer, das, wenn es nicht gerade mit Schiffen spiele und sie in den Abgrund zöge, in den tiefsten Tiefen des Meeres ruhe und sich nur dann wieder vom finstern Grund erhebe, wenn es mit Gott sprechen wolle. Dass der Leviathan lediglich eine Allegorie auf die zerstörerische Kraft des Meeres darstellt, sagte uns Quinten damals nicht, aber das hätten wir sowieso nicht verstanden.
«Wenn du willst, dass deine Kinder jemals ins Wasser steigen, dann erzähl ihnen nicht solchen Unsinn.»
Da hatte meine Mutter schon recht. Das Misstrauen, das ich gegenüber Neuem sowieso schon hegte, verstärkte Quinten mit seinen furchterregenden Geschichten über den Ozean und dessen Bewohner natürlich noch mehr. Da half auch die Tatsache, dass, wie uns Quinten erzählte, alles Leben seinen Anfang im Meer gefunden hat, nichts. Als ich eine Stunde später zum ersten Mal wenige Meter vor dieser ungeheuer grossen Menge tiefen Wassers stand, überkam mich ein mulmiges Gefühl, und ich weigerte mich vorerst, trotz heftigen Zuredens meiner Eltern, in das türkisblaue Meer zu steigen. Neidvoll schaute ich auf meine Geschwister, die sich mutig in die Wellen warfen und sich im salzigen Wasser tummelten, während ich im Trockenen verharrte und dem fordernden Meer erlaubte, höchstens meine Füsse zu berühren. Dann setzte ich mich zu meiner Mutter, die sich in der Sonne räkelte, in den Sand und starrte auf den Horizont, wo Himmel und Wasser sich vereinten. Es dauerte nicht lange und ich hatte einen leichten Sonnenbrand. Plötzlich fasste mich meine Mutter bei der Hand und liess mich nicht mehr los, bis ich bis zum Bauchnabel im Wasser stand. Ich hatte Angst, auf einen Seeigel zu treten, ich erwartete, jeden Moment von einer Krake in die dunklen Tiefen gezogen zu werden, ich spürte, wie die Kraft des Wassers an mir zerrte und mich hinaustragen wollte, wo hungrige Haifische und bösartige Wassergeister schon auf mich warteten. Ich war erst ein sechsjähriger Junge, der nicht schwimmen konnte und der sich an seine Mutter klammerte wie ein junges Äffchen. Das Ganze war mir nicht geheuer und ich flehte meine Mutter an, mich wieder ins Trockene zu bringen. Bis heute ist mir das Meer mit seiner beweglichen Schlangenhaut und seiner raubtierhaften Schönheit geheimnisvoll geblieben und wird es bestimmt auch immer bleiben.
«Du brauchst keine Angst zu haben, Rupert», sagte meine Mutter und schickte sich an, noch weiter hineinzusteigen. «Ein Junge, der den Tod überlistet hat, braucht sich vor nichts zu fürchten.»
Das klang ja so, als ob ich mich vor dem Tod gefürchtet hätte, damals, als ich noch nicht einmal wusste, was Leben bedeutet. Ich war ein Angsthase. Sogar meine kleine Schwester Salomé planschte fröhlich im Wasser herum und quietschte jedesmal wie ein Ferkel, wenn sie von einer sterbenden Welle erfasst wurde.
Nachdem der Kellner die Poseidonplatte auf den Tisch gestellt und uns einen guten Appetit gewünscht hatte, erschrak ich erneut. Da starrten mich Garnelen, deren Körper irgendwie durchsichtig waren und man ihre Innereien erkennen konnte, mit stecknadelkopfgrossen schwarzen Augen an und streckten ihre langen Fühler wie Antennen in alle Richtungen. Zusammen mit anderem Meeresgetier wie Kalmaren, Krabben, Tintenfischen und verschieden grossen Muscheln hatte der Koch die fangfrischen Meeresbewohner zu einem riesigen Haufen aufgetürmt, auf dessen Spitze majestätisch eine Languste von beachtlicher Grösse thronte, die aussah, als wäre sie noch am Leben. Überhaupt hatte ich den Eindruck, dass die Köche vergessen hatten, diesen Segen der Meere und ihrer Götter zu kochen. Alles sah noch roh und sehr lebendig aus.
Da stand ein riesiger Haufen kleiner Monster vor uns auf dem Tisch, den wir verspeisen sollten. Wieder musste ich an die Meeresungeheuer denken, von denen Quinten erzählt hatte. Zugegeben, es duftete köstlich, wenn auch fremdartig. Und wir Kinder hatten natürlich keine Ahnung, wie man so was isst. Dafür hatte Quinten grosse Ahnung davon, wie man diesen Viechern fachmännisch zu Leibe rückt. Und auch unsere Mutter wusste schon angemessen mit diesen fremdartigen Lebensmitteln umzugehen, von denen viele aussahen wie kleine Aliens. Es folgte eine weitere Einführung in die Geheimnisse des richtigen Verzehrs fremdartiger Gerichte. Diesmal gebrauchte Quinten hemmungslos seine Hände, was uns sehr gefiel. Er schaufelte sich eine grosse Portion auf den Teller, presste mit seiner kräftigen Hand Zitronensaft über alles, pullte den essbaren Teil aus der dünnen Schale der Garnelen, schlürfte das Muschelfleisch aus deren bunten Schalen und knackte geräuschvoll die Scheren der Languste auf. Es war toll anzusehen, wie er die Viecher sezierte und genüsslich verschlang.
Nach gut einer Stunde sah es auf unserem Tisch aus, als wäre ein Tsunami über ihn hinweggerollt. Die Teller quollen über vor lauter Exoskeletten und Muschelschalen, und das karierte Tischtuch war vollgesprenkelt mit Saucenspritzern. Ich muss zugeben, dass es nicht nur grossen Spass gemacht hat, Meeresfrüchte zu vertilgen, es schmeckte allen Vorurteilen zum Trotz wirklich ausgezeichnet. Quinten schien zufrieden zu sein, als er nach dem Mahl feststellte, dass alles weggegessen war und dass es allen seinen Kindern richtig geschmeckt hat. Unserer Mutter war anzusehen, dass sie insgeheim froh darüber war, dass derartige Gelage eher die Ausnahme würden, dass die Schweiz zum Glück ein Binnenland ist, wo es schon an Luxus grenzt, derlei Gerichte aufzutischen. Wir tunkten unsere fettigen Fingerchen in das Zitronenwasser, das der Kellner eigens zu diesem Zweck auf den Tisch gestellt hatte. Noch ein Novum für uns Kinder. Und weil wir so brav aufgegessen hatten, kriegten wir zum Dessert leckeres Speiseeis.
Bevor es zurück an den Strand ging, kauften meine Eltern einen Sonnenschirm. Die Sonne brannte erbarmungslos vom Himmel und wir rieben uns gegenseitig mit Sonnenöl ein. Ich setzte mich unter den bunten Schirm und schaute aufs Meer hinaus. Irgendwie war ich stolz darauf, viele kleine Monster verspeist zu haben, die Fischer am frühen Morgen der schlafenden See abgerungen hatten. Inzwischen war Wind aufgekommen und die Wellen waren entsprechend höher. Ich beobachtete die tosende Brandung und vermeinte, in ihrer Gischt die Kinder Poseidons zu erkennen, wie sie mit ihren Meerespferden heranpreschten, genauso wie ich sie vom Trevi-Brunnen her kannte. Dann legte ich mich bäuchlings auf das Badetuch, beobachtete noch eine Zeitlang das Treiben am Strand und schlief ein.
Als ich die Augen wieder öffnete, sah ich ein paar nackte Frauen vor mir, die sich seltsam bewegten. Ich traute meinen Augen nicht. Ich hatte den Eindruck, als schwebten sie, und als ich erkannte, dass sie sich tatsächlich über dem sandigen Boden bewegten, traute ich meinen Augen noch weniger. Und als plötzlich ein paar unerträglich bunte Fische vorüberschwammen, tat ich genau das, was Kinder in meinem Alter tun, wenn sie sich fürchten: Ich wollte nach meiner Mutter schreien. Aber ich konnte nicht schreien. Ich konnte nicht nach meiner Mutter rufen. Ich war unter Wasser, am Grunde eines seichten Meeres, wo die Kraft der Sonne immer noch für genug Licht sorgte, damit ich die Schönheit dieser Unterwasserwelt bewundern konnte. Ich vermochte keinen Ton von mir zu geben, aber ich konnte irgendwie atmen. Und ich konnte – wie sich bald herausstellen sollte – schwimmen wie ein Fisch. Die schönen Wassergeschöpfe schwebten elegant um mich herum, zuweilen hielten sie sich an den Händen, und ihr meterlanges Haar zogen sie – wie Kometen ihren Plasmaschweif – hinter sich her. Unentwegt lächelten sie mich an, als wollten sie die Angst, die sich meiner bemächtigt hatte, von mir nehmen. Und das ist ihnen auch gelungen. Entspannung trat ein. Plötzlich war mir unbeschreiblich wohl, das angenehm warme Meerwasser fühlte sich an wie im mütterlichen Fruchtwasser, und dass ich scheinbar unter der Obhut der drei Nereiden stand, verlieh mir die Gewissheit, dass ich in Sicherheit war. Ich lächelte, und das fassten die Nereiden wohl als Zeichen dafür auf, mich an den Händen zu nehmen und fortzutragen, fort in eine unbekannte Welt, die an Schönheit nicht zu übertreffen ist.
Die Nymphen schwammen mit mir vorbei an Unterwasserwelten, die mir den Atem genommen hätten. Jetzt glaubte ich, was uns Quinten im Auto erzählt hatte, nämlich dass das Leben unter Wasser vielfältiger und artenreicher sei als an der Oberfläche. Ich mag hier gar nicht aufzählen, welch seltsamen Meeresbewohnern wir begegneten, zu gross war ihre Anzahl. Mehr als all die grossen und kleinen Fische, die bunten Korallen und was das Meer sonst noch hervorbringt, faszinierten mich die Fabelwesen der See. Da waren Nymphen, Nixe, Meerjungfrauen, Nereiden, die auf Delfinen und Hippokampen ritten, ich wurde Triton und seinem Vater Poseidon vorgestellt, der zugleich der Herr meiner Beschützerinnen ist, wir begegneten dem mächtigen Okeanus, dem Ursprung aller Meere, Flüsse, Quellen und Brunnen. Es war fantastisch. Im Nachhinein bedauerte ich dann regelrecht, dass mir der Leviathan nicht gezeigt wurde. Die Nereiden mussten ihre guten Gründe gehabt haben, mir dieses Ungeheuer vorzuenthalten. Wie dem auch sei, auf jeden Fall habe ich auf diesem traumwandlerischen Tauchgang Dinge gesehen, die ich auf keinen Fall missen möchte.
Als die Nereiden bemerkten, dass ich allmählich müde wurde, setzten wir die Reise in einem Wagen fort, der von drei kräftigen Hippokampen gezogen wurde. Eine Schule Delfine begleitete uns. Die Meerespferde brachten uns zu den Unterwasserhöhlen, in denen die Nereiden hausen. Eine meiner Beschützerinnen geleitete mich zu einer riesigen gläsernen Muschel, in die sie mich bettete und die sich alsogleich langsam schloss. Überwältigt von all den Eindrücken, fiel ich in ruhigen Schlaf.
Dass sich Träume mitunter bewahrheiten, mag ja schön und gut sein, dass sie einem aber die Furcht, ja sogar die Angst vor etwas nehmen, ist eine unbestrittene Tatsache und für jeden Menschen von grossem Nutzen. So auch für mich. Die Nereiden hatten mir mit ihrem Erscheinen auf jeden Fall die Furcht vor dem Meer genommen. Das Mittagsschläfchen unter dem schattenspendenden Sonnenschirm wirkte Wunder. Nachdem ich aufgewacht war, entrollte ich mich aus der Embryonalstellung, die ich während meiner Siesta eingenommen hatte, streckte meine Glieder, erhob mich und verkündete meinen Eltern, die gerade damit beschäftigt waren, braun zu werden, dass ich ins Wasser ginge. Ohne eine Reaktion ihrerseits abzuwarten, stapfte ich durch den heissen Sand Richtung Meer. Ich spürte regelrecht hinter mir, wie die beiden sich aufsetzten, um sich meinen Gang ins Wasser nicht entgehen zu lassen. Sie hielten es nicht für nötig, etwas zu sagen. Wahrscheinlich glaubten sie mir nicht und warteten erst einmal ab.
Die Wellen gingen immer noch hoch, und ich musste ein paarmal leer schlucken, bevor ich mutig den ersten Fuss ins Wasser setzte. Ich spürte, wie die Wellen mir den Sand unter den Füssen wegzogen, spürte diese Kraft, mit der das Meer unermüdlich an den Küsten nagt. Plötzlich drehte ich mich um, um sicherzugehen, dass mich meine Eltern im Auge behielten. Sie nickten mir synchron zu, was hiess, ruhig weiter hinein zu gehen. Ich wünschte, die Nereiden wären hier und würden mich an den Händen führen, hinein ins schäumende Wasser. Aber sie waren nicht hier. Und während ich zögerte, mein Vorhaben in die Tat umzusetzen, fasste Mich Lou an der linken und Salomé an der rechten Hand. Dann schauten mich beide lächelnd an, bevor auch sie mit den Köpfen nickten. Wir sprachen kein Wort. Ich nickte zurück, schloss die Augen und stellte mir vor, zwei der Nereiden aus meinem Traum an den Händen zu haben. Schliesslich setzten wir drei uns in Bewegung, bis uns das Wasser bis zum Nabel reichte. Dann liessen meine Schwestern die Hände von mir und ich begann kräftig mit den Armen zu rudern, denn plötzlich stand mir das Wasser bis zum Hals. Die Welle hob mich vom sandigen Boden und trug mich wieder näher zum Strand, wo mich meine Schwestern wieder in Empfang nahmen.
«Das hat ja richtig Spass gemacht», dachte ich und wartete die nächste Welle ab.
Die ganze Zeit über behielt uns Quinten im Auge, nachdem sich unsere Mutter wieder hingelegt hatte und ihrem Rücken ein Sonnenbad gönnte. Strahlende Augen und ein wohlwollendes Lächeln erwarteten mich, als ich zurück an unseren Platz kam. Und das entsprach eindeutig nicht der Art von Beifall, den ein jeder Mensch der Welt- und Daseinskomödie zollt, ob er nun will oder nicht. Nein, dieser stumme Beifall war echt, ungekünstelt, der kam direkt vom Herzen. Ich hatte an diesem Tag nicht nur das Meer bezwungen, sondern auch kleine Monster gegessen, die aus dem Meer kommen. Und ich hatte mir einen veritablen Sonnenbrand eingefangen. Meine Eltern waren stolz auf mich, ich selber war es auch. Meine Geschwister hänselten mich zwar weiterhin und nannten mich ab und an einen Angsthasen, aber das war mir egal. Bevor wir den Strand verliessen, blickte ich nochmals aufs Meer hinaus und bedankte mich in Gedanken bei den
Nereiden.
Nach gut zwei Wochen in Rom hatte ich schon elf Ansichtskarten zusammen, die ich gut verstaut in meiner wildledernen Umhängetasche immer bei mir trug. Die mit nordländischen Motiven bestickte Tasche hatte Quinten aus Finnland mitgebracht. Wohlgemerkt musste ich für die Ansichtskarten auf elf Gelatis verzichten, was schon ziemlich hart ist für einen kleinen Jungen, der Süssigkeiten über alles liebt. Man kann nicht alles haben. Man muss sich entscheiden für das, was einem mehr Freude bereitet, was einem mehr Wert ist, was einem von grösserem Nutzen ist. Das wurde uns Kindern schon früh eingebläut. Bei Ansichtskarten liegt der Nutzen hauptsächlich darin, sie Bekannten, Verwandten oder Freunden zu schicken, um sie wissen zu lassen, dass man auf Reisen ist, oder um kartonierte Erinnerungsfotos mit nach Hause zu nehmen. Oder man ist Sammler und sammelt sie einfach. Nicht so bei mir: Ich wollte die Karten, um die darauf abgebildeten Gebäude nachzubauen. Nachzubauen mit meinen Bauklötzen. Sie sollten mir als Vorlage dienen. Ich liebte meine Bauklötze über alles, fast noch ein bisschen mehr als meine Malstifte. Ich konnte mich stunden-, ja tagelang mit meinen Klötzen beschäftigen, indem ich Türme, Kirchen, halbe Dörfer oder Fantasiegebäude baute, die ich dann stehen liess, bis sie von meiner jüngeren Schwester Salomé, die ständig mit allem auf Kollisionskurs war, zerstört wurden. Man hätte sie Theia nennen sollen.
Von folgenden Bauwerken trug ich bereits eine Ansichtskarte in meinem Täschchen bei mir: Vom Kolosseum, vom Trevi-Brunnen inklusive Palastfassade des Palazzo Poli, von der Paulskirche, von der Villa Borghese, von der Spanischen Treppe, vom Vittorio Emmanuele Monument, von der Engelsburg, von den Resten der Basilika Emilia, von der Focasäule, von der Basilika Massenzio und vom Septimius-Severus-Bogen. Und heute würden bestimmt noch ein paar Karten dazukommen, und zwar vom Vatikan.
An dem Tag, an dem wir uns vorgenommen hatten, den Vatikan zu besuchen, war es noch heisser, als es die Tage zuvor schon gewesen war. Die Luft flimmerte. Erbarmungslos brannte die Sonne vom Himmel und tünchte alles in grelles Weiss. Von Quinten wusste ich, dass auf dem Vatikanischen Hügel, der von einer mächtigen Mauer umfriedet ist, viele Bauwerke stehen, die nur darauf warteten, von mir nachgebaut zu werden. Er nannte mir den Petersdom, den Petersplatz, der auf zwei Seiten von mächtigen Kollonaden eingeschlossen ist, er schwärmte von der Sixtinischen Kapelle, von den Vatikanischen Museen, er erwähnte die Leoninische Mauer, den Apostolischen Palast und weitere Gebäude und Mauerwerke, deren Namen mir entfallen sind. Meine Augen wurden bei jedem Gebäude, das er mir aufzählte, grösser. Ich konnte es kaum erwarten, endlich aufzubrechen in diese Enklave, in dieses päpstliche Territorium, wo sich der Heilige Stuhl befindet, auf dem das christliche Oberhaupt sitzt und mit seinen riesigen Tentakeln die ganze Welt umklammert.
Ungeduldig wartete ich in der Hotellobby auf die anderen und fragte mich, wa­rum zum Henker es so lange dauerte, bis meine Mutter sich entscheiden konnte, was sie anziehen soll. Als es dann endlich so weit war und sich alle in der Lobby eingefunden hatten, staunte ich nicht schlecht ob der Garderobe, die sie ausgewählt hatte: Sie trug beinahe nichts. Warum zum Teufel dauerte es so lange, so wenig anzuziehen! Unsere Mutter trug lediglich Hot pants, die ihren Hintern knapp bedeckten, eine ärmellose Bluse mit Blumenmotiven, hochhackige Riemchensandalen und einen weissen Sommerhut. Kurz gesagt, sie sah ziemlich scharf aus.
Zu scharf für den Vatikan. Aber nicht zu scharf für die Römer auf ihren Vespas. Überall wurde ihr nachgepfiffen. Die Fussgänger drehten sich nach ihr um, die Autofahrer hupten. Ungeachtet der Tatsache, dass sie mit ihrem Ehegatten und uns vier Kindern unterwegs war, wurde sie von den Itakern hemmungslos angemacht. Quinten schien das in keiner Art und Weise zu stören. Er kannte die Mentalität der Italiener und wusste nur zu gut, dass Hunde, die bellen, völlig harmlos sind. Wir erreichten schliesslich den Petersplatz, von dessen schierer Grösse wir überwältigt waren. In der Mitte des ellipsenförmigen Platzes, der auf zwei Seiten von Säulengängen eingeschlossen ist, welche zugleich die Staatsgrenze zwischen Vatikanstadt und Italien bilden, ragt der Obelisk in die Höhe, der von Papst Sixtus V. 1586 aufgestellt worden ist. Quinten erzählte uns, dass das ein ungeheurer Kraftakt war, für dessen Ausführung nicht weniger als neunhundert Arbeiter und fünfundsiebzig Pferde benötigt wurden. Wir erreichten schliesslich die Piazza Retta und den Eingang zum Petersdom, wo unser Ausflug ein abruptes Ende fand.
Die Pfaffen vor dem Eingang verweigerten uns vehement den Zutritt. Sie waren in höchstem Masse empört über die Aufmachung meiner Mutter. Ich wollte gar nicht wissen, was sie alles daherredeten, aber so wie Quinten auf Italienisch reagierte, lästerten die Kirchenmänner über meine Mutter, als wäre sie ein billiges Flittchen. Lautstark verfluchte Quinten die Pfaffen und den ganzen Vatikan, bevor er uns hiess, diesen scheinheiligen Ort zu verlassen. Das passte mir natürlich gar nicht in den Kram. Ich hatte noch nicht einmal eine Ansichtskarte vom Petersplatz. Und jene von den übrigen Gebäuden konnte ich mir auch abschminken. Als wir den Riesenplatz ein zweites Mal gequert hatten, zog Quinten immer noch über die unnachgiebigen Pfaffen her. Er nannte sie pausenlos eingebildete Idioten, die sich hinter den dicken Mauern des Vatikans gegenseitig die Schwänze lutschen. Er nannte sie Blender, Mörder und Verbrecher, die keine Gelegenheit ausliessen, um sich zu bereichern.
«Bekomme ich wenigstens eine Karte vom Petersplatz?»
«Nerv nicht mit deinen blöden Ansichtskarten!»
«Lass deine Wut gefälligst nicht an deinem Sohn aus. Schliesslich hast du mir geraten, etwas Leichtes anzuziehen.»
Dann wandte sich meine Mutter an mich und versicherte mir, dass ich heute nicht nur eine Karte, sondern auch ein Gelati bekäme.
Nach wenigen Minuten hatte sich Quinten beruhigt. Er entschuldigte sich bei mir und schlug uns vor, einen Ausflug nach Tivoli zu machen, wo wir die Villa d’Este mit ihren berühmten Gärten und über fünfhundert Brunnen besuchen würden. Der Vatikan und die blöden Pfaffen könnten uns gestohlen bleiben.
Eine Stunde später sassen wir in Quintens Auto. Wir wurden regelrecht gegart. Es war kaum auszuhalten. Damals gab es in Mittelklassewagen wie dem unsrigen noch keine Klimaanlagen. Und die Fenster runterzukurbeln, half auch nicht viel. Es fühlte sich an wie in einem Umluftbackofen. Die Sonne brannte auf Höchststufe. Als wir Tivoli erreichten, klebten unsere Leibchen an den feuchten Körpern. Wir hechelten wie räudige Hunde und waren heilfroh, endlich aus dieser Blechbüchse rauszukommen. Mein Schädel fühlte sich an wie ein weichgekochtes Ei. Unter meiner Epidermis arbeiteten die Schweissdrüsen auf Hochtouren, schafften es aber nicht richtig, meinen Wärmehaushalt wieder auf Vordermann zu bringen. Auch die anderen waren klatschnass. Ich konnte es kaum erwarten, meine Hände ins Wasser eines der vielen Hundert Brunnen zu halten.
Zunächst gab es aber für alle erst mal etwas Eisgekühltes zu trinken, um den Flüssigkeitshaushalt wieder auszugleichen. Während wir jeden Schluck genossen, als hätten wir seit Tagen nichts getrunken, erzählte uns Quinten ein paar Dinge über die Villa d’Este. Bevor es von Kardinal Ippolito II. d’Este, übrigens ein Borgia-Sprössling, als Wohnsitz gewählt wurde, war es ein Benediktinerkloster. Der Kardinal liess bald schon die einzigartigen Gärten mit seinen unzähligen Wasserspielen am leicht abschüssigen Hang anlegen, wobei er nicht davor zurückschreckte, im Weg stehende Gebäude kurzerhand niederzureissen. Während der nächsten Jahrzehnte wurde der Park instand gehalten und ständig erweitert und ausgebaut, bevor im 18. Jahrhundert der Zerfall begann. Inzwischen gehörte das Anwesen den Habsburgern, und die schienen Wichtigeres zu tun zu haben, als sich um Gärten und Brunnen zu kümmern, die langsam aber sicher in einen hundertfünfzigjährigen Dornröschenschlaf fielen.
«Und die Prinzessin? Hat die auch so lange geschlafen?» Meine jüngere Schwester Salomé musste beim Wort Dornröschen sofort an die gleichnamige Prinzessin aus dem Märchen denken.
«Nein, Kleine, da gab es keine Prinzessin.»
«Und auch keinen Prinzen?»
«Oh doch, einen Prinzen hat es gegeben. Und zwar Gustav-Adolf Prinz zu Hohenlohe-Schillingsfürst. Er hat die grosszügige Gartenanlage vor dem völligen Zerfall gerettet. Und wäre da doch eine Prinzessin gewesen, hätte er sie bestimmt aus ihrem hundertjährigen Schlaf wachgeküsst.»
Salomé lächelte zufrieden. Der warme Wind hatte unsere Leibchen im Nu getrocknet, und die kalten Getränke weckten unsere Lebensgeister, die sich in die hintersten Winkel unserer Körper zurückgezogen hatten. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs ging die Villa wieder in den Besitz des italienischen Staates über, welcher das Anwesen einer gründlichen Renovation unterzog und es endlich der Öffentlichkeit zugänglich machte. Doch während des Zweiten Weltkriegs wurden die Bemühungen des Staates durch Bombenschäden bereits wieder zunichtegemacht und eine neuerliche umfassende Restaurierung der Anlange drängte sich auf.
Als wir wenig später durch die Allee der hundert Brunnen lustwandelten, musste ich mich fragen, was den Menschen dazu antreiben mag, einen solch wunderbaren Ort verlottern zu lassen oder – weit schlimmer – gar zu zerstören. Und weil ich keine Antwort auf diese Frage wusste, wandte ich mich an Quinten, der auf alles eine Antwort fand.
«Mein lieber Rupert, das liegt nur daran, das der Mensch bisweilen vor lauter Dummheit erblindet und die Schönheit der Dinge nicht mehr erkennt. Dazu kommt, dass sich Dummheit meist in Bosheit wandelt, und Bosheit ist bekanntlich die beste Voraussetzung dafür, jemandem Schaden zuzufügen oder Dinge einfach kaputt zu machen.»
«Sind alle Menschen dumm?»
«Nicht alle, aber die meisten.»
Vor dem Neptunbrunnen mit seiner riesigen Wasserorgel verschlug es mir regelrecht den Atem. Tief beeindruckt setzte ich mich auf eine Mauer und konnte den Blick vom Wasserspiel nicht mehr lösen. Meine Geschwister setzten sich neben mich und lauschten eine Zeitlang dem beruhigenden Geplätscher, das die vielen Fontänen erzeugten. Nicht weit von uns sassen die Eltern auf einer steinernen Bank im Schatten. Ausser uns hielt sich zurzeit niemand anderes in diesem Teil des Gartens auf. Quinten hatte eine Zigarette angezündet und Mutter zog sich die Lippen nach. Es herrschte tiefster Frieden. Das war einer der schönsten Momente in meinem Leben. Einfach nur auf dem kühlen Gestein zu sitzen, den Neptunbrunnen anzustarren und sich nichts dabei zu denken, erfüllte mich mit grösster Zufriedenheit. In diesem Moment spürte ich, dass es nur wenig zur Seligkeit braucht, und dass Zufriedenheit der Schlüssel zum Geheimnis des Glücks ist. Nur hat mir diese Einsicht von damals nicht viel genutzt. Mein ganzes Leben lang war ich die meiste Zeit unzufrieden, und bin es auch heute noch. Einsichten garantieren noch lange nicht die von ihnen implizierte Satis­faktion.
Wir liessen uns Zeit und verbrachten den ganzen Nachmittag in den Gärten der Villa d’Este. Immer wieder setzten wir uns in den Schatten der Pinien, die überall wuchsen, netzten unsere Hände und Gesichter an den vielgestalteten Brunnen oder versteckten uns in den feuchtkalten Grotten. Auf dem Weg zurück nach Rom schlief ich die meiste Zeit. Es war nicht mehr ganz so heiss wie bei der Hinfahrt, aber immer noch drückend heiss. Von der Villa d’Este hatte ich anstelle einer Ansichtskarte eine Fotobroschüre bekommen. Meine Freude an dem Büchlein war unbeschreiblich, was Quinten und meine Mutter schliesslich dazu veranlasste, mir ein paar Tage später ein hundertzwanzigseitiges Fotobuch im Format DIN A4 vom Vatikan zu schenken, quasi als vorgezogenes Geburtstagsgeschenk. Ich war hin und weg, schon wieder, und vergass darob die blöden Pfaffen, die uns nicht eingelassen hatten.
Für einen Jungen, der die Ruhe und die Geräusche der Natur liebt, war der unerträgliche Lärm in der Stadt beinahe schmerzhaft. Mitunter wusste ich nicht mehr, wo mir der Kopf stand und ich sehnte mich zurück in die friedvollen Gärten der Villa d’Este. Die Italiener scheinen nichts lieber zu tun, als unentwegt zu hupen, zu pfeifen und zu schreien. Und die vielen Vokale in ihrer Sprache lassen die jeweiligen Stimmen noch lauter klingen. Es ging nur langsam voran. Allmählich hatte ich das Gefühl, im Kreis zu fahren. Ich starrte gedankenlos aus dem Fenster und liess die alten Gemäuer an mir vorüberziehen. Als Quinten wieder mal anhalten musste, weil das ein Verkehrspolizist von ihm verlangte, blieb mein Blick auf einem antiken Bauwerk haften, das ich noch nicht gesehen hatte.
«Was ist das für ein seltsames Gebäude?», fragte ich Quinten.
«Das mit der Kuppel dort? Das ist das Pantheon.» Quinten kurbelte das Fenster runter und zündete eine Zigarette an. «Bevor es zur katholischen Kirche wurde, war es ein allen Göttern geweihtes Heiligtum. Du wirst es nicht glauben, Rupert, aber diese Kirche ist schon eintausendachthundertfünfzig Jahre alt.»
«Eintausendachthundertfünfzig Jahre – wie lange das wohl sein mag?», dachte ich.
Ich hatte keine Ahnung. Die Zahl an und für sich sagte mir schon was. Sie war riesig, ungeheuer hoch für einen Sechsjährigen. Aber mir eine Zeitspanne vorzustellen, die so viele Jahre dauert, das schaffte ich nicht. Nur schon ein Jahr ist ja verdammt lang. Diese Kirche steht schon eine Ewigkeit hier. Wie so vieles andere auch in dieser Stadt. Darum wird sie wahrscheinlich die Ewige Stadt genannt. Solche Gedanken beschäftigten mich, als Quinten wieder anfuhr.
«Wann besuchen wir das Pantheon?», fragte ich Quinten, während mein Blick immer noch auf dem antiken Gebäude haftete.
«Hier haben wir offenbar einen zukünftigen Architekten im Wagen sitzen», sagte Quinten zu meiner Mutter, bevor er Antwort auf meine Frage gab. «Keine Angst Rupert, wir werden das Pantheon besuchen.»
Auch wenn ich nicht ganz zufrieden war mit dieser Antwort, sagte ich nichts mehr, schwieg und starrte wieder auf den Verkehr hinaus. Die Fahrt zum Hotel durch die Stadt schien ewig zu dauern. An der Porta San Giovanni bog Quinten in die Via Appia Nuova ein.
«Kinder, nicht weit von hier liegt die Via Appia Antica, an welcher in uralten unterirdischen Friedhöfen die Gräber römischer Patrizier aus vielen Generationen liegen. Später übernahmen die ersten Christen diesen Brauch. Man nennt diese Friedhöfe Katakomben. Die Christen legten ihre Toten ohne Sarg, nur in ein Laken gehüllt, in rechteckige Nischen, einen neben den andern. Die einzelnen Katakomben sind mit unterirdischen Gängen verbunden und bilden kilometerlange Labyrinthe. Grosse Teile Roms sind unterhöhlt, Kinder. Unter der Stadt liegen die Gebeine von Millionen von Toten.»
Das hörte sich äusserst interessant an.
«Wann besuchen wir die Katakomben?», fragte ich erwartungsgemäss.
Diesmal antwortete meine Mutter: «Niemand von uns wird in die Katakomben hinuntersteigen. Das ist nichts für Kinder. All die aufgebahrten Schädel und Knochen, das ist wirklich nichts für Kinder.»
Toll, dachte ich, es blieb mir also nicht nur der Vatikan verwehrt, nein, auch die Katakomben konnte ich mir abschminken. Ich schwieg und starrte wieder zum Fenster hinaus.
Quintens Wut auf den Klerus war so gross, dass er meinen Vorschlag, es anders gekleidet nochmals zu versuchen, den Hauptsitz der Katholischen Kirche zu betreten, rigoros ablehnte. Und an meiner Idee, allenfalls ohne Quinten das Allerheiligste zu betreten, fand meine Mutter keinen Gefallen. Es war also nicht erstaunlich, dass ich zuweilen mit dem Gedanken spielte, den Vatikan alleine zu besuchen. Nicht dass ich die Nähe unseres kirchlichen Oberhauptes gesucht hätte, nein, es ging mir nach wie vor um die alten Gebäude. Was den Papst und seine Pfaffen anging, da eiferte ich bedingungslos Quinten nach: Die konnten mir gestohlen bleiben. Den Gedanken, das alles alleine durchzuziehen, verwarf ich zwar schnell wieder. Mir fehlte eindeutig der Mut dazu, ein solches Unterfangen in Angriff zu nehmen, ganz alleine, nur auf mich gestellt, in einem kleinen Staat auf einem der sieben Hügel mitten in Rom. Wahrscheinlich hätten sie mich sowieso nicht eingelassen.
Als wir das Hotel endlich erreichten, war ich hundemüde. Ich wollte nur noch auf mein Zimmer. Gott sei Dank waren auch meine Geschwister müde genug, um schon nach wenigen Minuten Ruhe zu geben. Bevor auch ich in den wohlverdienten Schlaf fiel, fragte ich mich, ob Gott einem in Rom näher ist als sonst wo. Quinten würde mir bestimmt Antwort darauf geben können.
Natürlich habe ich es versäumt, Quinten danach zu fragen. Aber das ist weiters nicht schlimm. Als wir ein paar Tage später unter der gewaltigen Kuppel des Pantheons standen, wurde mir klar, dass Gott in Rom den Menschen keineswegs näher ist als sonst an einem Ort, vielmehr versucht der Mensch in Rom, Gott näher zu sein, indem er überall Kirchen errichtet. Die Römer leben mit dem grossen Irrtum zu glauben, Gott sei ihnen wegen ihrer Tausenden von Kirchen näher. Aber das stimmt nicht. Gott ist nirgends auf Erden, Gott ist im Himmel. Trotzdem übten die vielen Kirchen in Rom eine grosse Faszination auf mich aus. Gott hin oder her. Mir ging es nur um die Bauwerke. Und die haben es in sich.
Das Pantheon ist für mich das perfekte Bauwerk. Hadrian musste über gute Architekten verfügt haben. Es war denn auch das Gebäude, das nachzubauen mir am besten gelang. Als Kuppel verwendete ich eine Schale aus Hartplastik, die ich meiner Mutter für zeitweiligen Gebrauch abgerungen hatte. Schade nur, dass Quinten die meisten meiner Nachbauten nicht bestaunen konnte. Sie waren leider alle, wie ich bereits erwähnte, einem baldigen Untergang geweiht, weil meine kleine Schwester Salomé wie ein aus der Bahn geratener Himmelskörper ständig mit allem kollidierte, was ich mühsam errichtet hatte. Ich konnte ihr dennoch nicht böse sein und sah in ihrer kindlichen Zerstörungswut notgedrungen den Untergang des Römischen Reiches. Eigentlich konnte ich froh sein, dass Salomé zerstörte, was ich geschaffen hatte. Ich selber hätte es kaum übers Herz gebracht, meine Werke niederzureissen.
Erstaunlicherweise hatte sie vor einem meiner Bauwerke so viel Respekt, dass sie es stehen liess. Es handelte sich um ein nachgebautes Aquädukt, das vielmehr einem Viadukt ähnelte und sich vom einen Ende meines Zimmers bis zum anderen erstreckte. Wie eine steinerne Brücke querte es den Fussboden, welcher vor mir lag wie ein trockengelegtes Gewässer. Vielleicht war ihr meine Bauklotzbrücke einfach zu wenig hoch, als dass es sich für sie gelohnt hätte. Ich weiss es nicht. Auf jeden Fall stand meine Brücke unbeschadet über Wochen im Zimmer, das sich mein Bruder Camille mit mir teilte. Er wusste meine Arbeit zu respektieren und bewegte sich mit der nötigen Vorsicht. Und nicht nur das. Er steuerte sogar einige seiner Plastikfigürchen bei und bevölkerte mit ihnen meine Brücke. Er versuchte, meinem Bauwerk irgendwie Leben einzuhauchen, indem er mit seinen Figürchen – und von denen hatte er jede Menge – Szenen inszenierte, die sich durchaus auf einer Brücke hätten abgespielt haben können. Einmal trottete eine Gruppe hässlicher Zwerge über die Brücke, als würden sie nach etwas suchen, ein andermal setzte er ein paar Angler auf die Brüstung, wieder ein andermal platzierte er einen schwarzen Hengst, der von einer Horde schwer bewaffneter Soldaten verfolgt wurde. Ständig überraschte mich Camille mit neuen Situationen, die er auf meiner Brücke inszenierte. Einmal schlug er mir vor, in der Mitte der Brücke ein Gebäude an selbige zu bauen, damit die Figürchen einen Ort erhielten, wohin sie sich zurückziehen könnten. Und so errichtete ich ein Bauwerk, das an ein Wasserschloss erinnerte.