Das gestohlene Buch


Auszug aus dem zwanzigsten Kapitel
Das gestohlene Buch

«Wie du siehst, mein lieber Leopold, beschäftigen wir uns nicht nur mit Bergbau und Schmiedekunst, sondern auch mit anderen, weitaus wichtigeren Dingen.» Bömbur liess seinen Blick durch die gigantische Bibliothek schweifen und der Stolz stand ihm sichtlich ins Gesicht geschrieben. «Es ist unsere dringlichste Aufgabe, das geschriebene Wort für die Ewigkeit zu bewahren und dadurch das Gleichgewicht zwischen Fiktion und Realität, zwischen Traum und Wirklichkeit, zwischen Sein und Nichtsein aufrechtzuerhalten. Und bei dieser Aufgabe spielt das verschwundene Buch eine gewichtige Rolle. Seine Kraft reicht offensichtlich aus, um die Wechselwirkungen zwischen den Welten zu beeinflussen und eine Stabilität zu gewährleisten, die dringend erforderlich ist, um das Weltengefüge nicht durcheinanderzubringen. Jetzt aber, wo das Buch sich nicht mehr an seinem angestammten Platz befindet, besteht die Gefahr, dass alles langsam aber sicher aus den Fugen gerät. Nur hier an diesem Ort, den die Götter geschaffen haben, ist das Buch imstande, seiner ursprünglichen Bestimmung nachzukommen, das Gleichgewicht zu bewahren, indem es alles in sich aufnimmt, was gesprochen, geschrieben oder gedacht wird. Es funktioniert nur hier im Glaskasten, wo es in einer Art Symbiose mit dem schwarzen Quader lebt.»
Bömbur hielt in seinen Ausführungen inne und schien angestrengt über etwas nachzudenken. Sein freundliches Antlitz war inzwischen verschwunden, Sorgenfalten erstreckten sich über sein ganzes Gesicht, und mein Grossonkel Leopold vermeinte in diesem Moment einen Anflug von Angst auf dem Antlitz des Erdlings zu erkennen.
«Euer Buch scheint mir so etwas zu sein wie ein Götzenbild, möglicherweise so was wie ein Gott», brach Leopold das Schweigen.
Bömbur und seine Männlein starrten ihn mit ausdruckslosen Gesichtern an, wie die Masken in einer griechischen Tragödie.
«Bei uns Menschen ist Gott der Allmächtige allein imstande, alles zu sehen, zu hören und zu wissen. Er allein weiss, was war, was ist und was sein wird.»
Während mein Grossonkel diese Worte sprach, musste er unweigerlich an die Monadenlehre von Leibniz denken, vor allem an dessen Begriff der Urmonade. Die Kirchberger Erdleute starrten ihn weiterhin an, als ob er etwas gesagte hätte, das er besser nicht gesagt hätte.
«Euer Gott ist ein Idiot, der interessiert uns nicht», sagte Bömbur, «der kümmert sich einen Dreck um das Weltengefüge und noch weniger um euch Menschen. Eigentlich müsstet ihr ihn hassen, weil er ein Monstrum ist. Er hat eine Welt geschaffen, um sie mit Räubern und Tyrannen zu bevölkern, eine Welt, deren Bewohner dem Aberglauben verfallen sind, eine Welt, auf der niemals wahrhafte Gerechtigkeit herrschen wird. Durch den inszenierten Tod seines Sohnes und damit seiner selbst hat er nichts anderes bewirkt, als das gesamte Menschengeschlecht dem Schrecken ewiger Qualen auszusetzen. Er hat euch Menschen ans Messer geliefert. Gelassen und amüsiert beobachtet er, wie alles ins Chaos driftet, je schneller, um so besser. Ich müsste mich nicht wundern, wenn er in dieser Angelegenheit seine Hände mit im Spiel hätte, um alles zu beschleunigen, eingebildet und selbstsüchtig wie er ist.»
Bömbur fuhr mit seiner Hand durch die Luft, als ob er etwas Unangenehmes wegwischen wollte und bedeutete seinen Gefährten, die Bibliothek zu verlassen.
Kurze Zeit später schritten sie wieder durch etliche Korridore, bogen mal nach links, mal nach rechts ab, betraten seltsam bieder eingerichtete Räume und fuhren mit Aufzügen mal nach unten, mal nach oben. Die Kirchberger Erdleute hatten es eilig, und Leopold folgte ihnen mit weit ausholenden Schritten. Die grosse Hauptbibliothek der Unterirdischen befindet sich laut Aussagen Bömburs tief in den Bergen des Himalajas, wo seit Anbeginn der Zeiten der Glaskasten steht und wohin den Weg zu finden nur wenigen Erdleuten vergönnt ist, nämlich jenen, die mit dem ausgeklügelten System von Korridoren, Aufzügen und Räumen vertraut sind und somit wissen, wohin sie zu gehen haben. Unkundige Erdleute würden sich auf jeden Fall verlaufen und verloren gehen. Mein Grossonkel Leopold konnte sich beim besten Willen nicht erklären, nach welchen Gesetzmässigkeiten dieses raffinierte, unterirdische System funktioniert. Die Kirchberger Erdleute, normalerweise redselig und sehr mitteilsam, schwiegen schon seit geraumer Zeit, und Leopold fragte sich, ob es zum jetzigen Zeitpunkt wohl angebracht wäre, Bömbur mit dämlichen Fragen zu behelligen. Nach kurzem Überlegen beschloss er zuzuwarten und trottete schweigend hinter dem Zwergentrupp her.
«Wenn es dich interessiert, mein lieber Leopold, kann ich dir gern erklären, worauf unser Tunnelsystem basiert», antwortete Bömbur auf Leopolds stumme Fragen.
«Oh ja, liebend gern», erwiderte Leopold perplex und betrachtete Bömbur mit Verwunderung.
«Du siehst hier zwar keine Tunnels, und trotzdem nennen wir es Tunnelsystem. Das kommt erstens daher, dass diese schmucken, manigfaltig eingerichteten Korridore und Zimmer in früheren Zeiten nichts anderes als in den Stein gehauene Stollen waren. Mit der Zeit wurden sie von uns Unterirdischen ausgebaut und wohnlich eingerichtet, um das Reisen angenehmer zu gestalten. Zugegeben, die Einrichtungen vieler Räume und Korridore zeugen von Geschmack- und Ideenlosigkeit. Zweitens besteht das gesamte System aus einem Geflecht von sogenannten Miniwurmlöchern, also einer Art Verbindungstunnels. Jedesmal wenn wir von einem Raum durch eine Tür in den nächsten treten, durchschreiten wir eines dieser Wurmlöcher und sind somit imstande, in kürzester Zeit grosse Entfernungen zurückzulegen. Sobald eine Tür geöffnet wird, wird das Wurmloch aktiviert und der Raum entsprechend gekrümmt. Dazu wird eine Menge exotischer Materie negativer Energie gebraucht. Und genau diese exotische Materie wird seit jeher im Glaskasten Kraft der Energie des Buches, das in symbiotischer Vereinigung mit dem schwarzen Kubus steht, geschaffen und in das weitverzweigte Labyrinth des Tunnelsystems gespeist, wo sie unter Mitwirkung von Tachyonen, die sich schneller als das Licht und rückwärts in der Zeit bewegen, die Bildung von Miniwurmlöchern ermöglicht. Jetzt, wo das Buch verschwunden ist, ist nicht nur das Gleichgewicht zwischen den Welten gefährdet, sondern auch die Produktion von exotischer Materie unterbrochen, was sich natürlich negativ auf unser Tunnelsystem auswirkt und das Reisen je länger je mehr zu einem gefährlichen Unterfangen macht. Das Verhältnis zwischen exotischer Materie und Tachyonen stimmt nicht mehr, was bedeutet, dass die Wurmlöcher zusammenfallen und somit den Reisenden gefährden können, oder – schlimmer noch –, dass sich durch das Kollabieren mehrerer Wurmlöcher ein Schwarzes Loch bildet, das rasant wachsen und alles unwiederbringlich verschlingen wird. Und das wäre dann das Ende unseres schönen Planeten. Wie du siehst, mein lieber Leopold, ist es von ungeheurer Wichtigkeit, dass wir das Buch finden, weil es nicht nur für die Sicherstellung der Produktion von exotischer Materie verantwortlich ist, sondern auch für das universelle Äquilibrium.»
Leopold verstand zwar kein Wort von dem, was Bömbur gesagt hatte, nickte aber unablässig mit dem Kopf und bedachte die vielen Türen mit respektvollen Blicken.
«Ihr verfügt in der Tat über eine erstaunliche Technik, die derjenigen von uns Menschen bei Weitem überlegen ist. Wie kommt es, dass wir Menschen euch Erdleuten dermassen unterlegen sind in technischen Dingen?»
«Der Mensch ist von Natur aus habgierig. Und diese Untugend oder – wie ihr es nennt – Todsünde hindert den Menschen daran, seine hehren Ziele zum Wohle aller zu verwirklichen. Vielmehr verliert der Mensch durch seine Habgier den wahren Blick auf die Dinge, er verkennt den richtigen Nutzen derselben und richtet sein Handeln einzig danach aus, seine Gier zu befriedigen, seinen Reichtum und seine Macht zu vergrössern, koste es, was es wolle. Er mag also reicher und mächtiger werden, was ihm bedauerlicherweise schon genügt, aber er verliert die Weitsicht und wird nie die wahre Erkenntnis erlangen darüber, was in vielen Dingen verborgen liegt, welch ungeheurer Nutzen ihnen innewohnt, welches ihre wahrhafte Bestimmung ist. Euch Menschen wird vieles versagt bleiben, mein lieber Leopold. Weil ihr habgierig und dumm seid.»
Bömbur klopfte Leopold auf die Schulter, um die Unruhe zu besänftigen, die sich plötzlich seiner bemächtigt hatte, während er die tadelnden Worte aus dem Mund des aufgebrachten Erdlings vernahm.
«Wenn wir Unterirdischen nicht ab und an euch Oberirdischen unter die Arme greifen würden, indem wir euch wissenschaftliche und philosophische Erkenntnisse zustecken, würdet ihr heute noch in Höhlen leben und euch gegenseitig lausen.» Bömbur lächelte meinen Grossonkel an und erzählte ihm, dass die Menschheit ihre wichtigsten technischen Errungenschaften einzig und allein ihnen, den Erdleuten, zu verdanken hätten. «Als Einstein mit seiner Relativitätstheorie das Verständnis von Raum und Zeit revolutionierte, waren wir es, die ihn in seinen Träumen besuchten und ihm halfen, wenn er glaubte, vor unlösbaren Aufgaben zu stehen. Wir besuchten ihn viele Male des Nachts und begleiteten ihn hilfreich auf den schwierigen Lösungspfaden. Viele bedeutende Forscher und Wissenschaftler hatten ihre Eingebungen, die die Welt veränderten, nach einem nächtlichen Besuch von uns.» Beinahe etwas hochnäsig schritt Bömbur voran und schien das Tempo ständig zu verschärfen. «Das erste Mal besuchten wir Albert im Jahre 1904, kurz bevor er die wohl berühmteste Formel eurer Welt zum ersten Mal in einem Aufsatz erwähnte und sich hernach anschickte, sich von der Speziellen zur Allgemeinen Relativitätstheorie hinzuwenden. In den folgenden Jahren halfen wir ihm bei der Entwicklung des Äquivalenzprinzips und bei der Ableitung der korrekten Feldgleichungen der Gravitation. Ohne unser Zutun hätte Albert Jahrzehnte länger gebraucht für die Allgemeine Relativitätstheorie – wenn er es denn überhaupt geschafft hätte.»
«Und wann werden wir den Umgang mit Tachyonen, exotischer Materie und Wurmlöchern beherrschen?», fragte mein Grossonkel den Zwergenchef.
«Wahrscheinlich niemals. Eure Habgier und Kurzlebigkeit werden euch daran hindern, genug lange zu existieren. Ob du es mir glaubst oder nicht, mein lieber Leopold, aber der Mensch hat schon lange damit begonnen, sein eigenes Grab zu schaufeln.»
Dieser Aussage Bömburs hatte mein Grossonkel nichts hinzuzufügen, war er doch derselben Meinung. Also schritt er schweigend den Wichten hinterher, bis die kleine Gruppe vor einem gusseisernen Tor stehen blieb. Die Lichtwesen tanzten aufgeregt vor dem Tor, als würden sie sich besonders darauf freuen, was sich hinter der mächtigen Tür befand. Auch die Kirchberger Erdleute lächelten einander wieder an. Sie standen vor dem grossen Tor, das zu öffnen weder Bömbur noch ein anderer der Wichtel imstande war, was meinen Grossonkel sehr verwunderte und ihn in der Annahme bestärkte, dass dieses Tor der Zugang zu etwas ganz Besonderem sein musste.
«Alwis lebt sehr zurückgezogen», ergriff Bömbur wieder das Wort. «Seit er von einem Mitglied der Göttergeschlechter auf gemeine Art und Weise überlistet wurde und beinahe zu Stein erstarrt wäre, nur weil jener ihm seine Tochter nicht zur Braut geben wollte, weiss niemand mit Gewissheit, wo genau er sich häuslich niederliess, um die Schmach, die man ihm angetan hatte, einigermassen mit Würde zu ertragen. Aber als einer von uns ist er durchaus bereit, uns Erdleuten mit seiner Allwissenheit zu helfen, wenn wir mit unserem eigenen Latein am Ende sind.»
Schweigend standen die Erdleute und mein Grossonkel noch eine Zeitlang vor dem mächtigen Tor. Weder hatte man die Möglichkeit anzuklopfen, noch war irgendwo eine mechanische Türklingel auszumachen. Die Gruppe kleiner Leute stand einfach da und wartete. Plötzlich begann sich das riesige Tor vor den Augen der Wartenden aufzulösen, bis es gänzlich verschwunden war.
«Nanotechnologie», bemerkte Bömbur nonchalant und schritt durch das Tor, das sich irgendwie in nichts aufgelöst hat. Sobald die kleinen Kerle alle den Raum gewechselt hatten, fügte sich das schwere Eisentor wie durch Zauberhand wieder zusammen und wurde seiner ursprünglichen Bestimmung wieder gerecht.
Der Raum, den sie betraten, unterschied sich von allen anderen Räumen beträchtlich: Man wähnte sich in einem Wald. Gewaltige Bäume mit knorrigen Ästen erstreckten sich in die Höhe. Ihre Baumkronen bildeten ein lückenloses Blätterdach, armdicke Lianen hingen wie Riesenschlangen von oben herab. Die Halle war erfüllt von manigfaltigen Geräuschen allerlei Getiers, das in dem Gehölz lebte. Unzählige Lichtwesen schwirrten aufgeregt durch die mit Feuchtigkeit und typischen Waldgerüchen geschwängerte Luft und labten sich an den Geräuschen. Der Boden war diesmal wirklich mit Moss bewachsen. Tellergrosse Sommervögel tanzten von Blüte zu Blüte und tranken unermüdlich mit ihren entrollten Saugrüsseln den begehrten Nektar. Sogar Kolibris konnte mein Grossonkel ausmachen. Die bunten kleinen Vögel mit ihrem metallisch schimmernden Gefieder standen zahlreich vor stark riechenden Blütenkelchen in der Luft, um mit ihren langen, gespaltenen Zungen an den geschätzten Blütensaft heranzukommen. Viele andere Baumsegler schwirrten in den Baumkronen umher. Dieser Raum war angefüllt mit vielfältigem Leben – und das unter der Erde. Leopold war ein weiteres Mal beeindruckt und konnte sich an dieser Vielfalt nicht sattsehen.
Die Erdleute schienen zielbewusst auf einem unsichtbaren Pfad durch diese üppige Fauna und Flora zu trotten, bis sich der unwirkliche Wald lichtete und sie vor einem riesigen, kunstvoll geschwungenen, ebenhölzernen Tisch Halt machten. Bömbur drückte die goldene Klingel, die auf dem Tisch stand wie die Klingel an einer Rezeption, und lächelte seine Gefährten zufrieden an. Dann reckten die Kirchberger Erdleute erwartungsvoll ihre grossen Köpfe in die Höhe und hielten Ausschau nach etwas, und mein Grossonkel tat es ihnen gleich. Plötzlich näherten sich ihnen von oben herab mit leichtem Flügelschlag die grössten drei Exemplare Lepidoptera – sie waren noch grösser und farbenprächtiger als die Königin-Alexandria-Vogelfalter, deren Abbild Leopold schon viele Male in Büchern bewundert hatte. Die riesigen Falter liessen sich Zeit und flogen in grossen Zickzackbewegungen den Wartenden entgegen – als ob sie eine unsichtbare Treppe hinunterkämen. Ein jeder der drei Vogelfalter setzte sich auf einen der drei bequemen Sessel, die hinter dem mächtigen Tisch standen, schlugen noch ein paarmal ihre bunten Flügel und verwandelten sich hernach in drei wüste Waldweiber.
«Hallo Jungs», sagte die erste der drei Weiber.
«Falls ihr Alwis besuchen wollt, geht das im Moment nicht», sagte die Zweite.
«Sein Wurmloch ist instabil», sagte die Dritte.
«Wir müssen unbedingt mit Alwis sprechen», sagte Bömbur, «wie instabil ist es?»
«Instabil genug, um auf der Reise verloren zu gehen», sagte die Erste.
«Instabil genug, um auf die letzte Reise zu gehen», sagte die Zweite.
«Instabil genug, um das Wurmloch bis auf Weiteres zu schliessen», sagte die Dritte, «bis das verschwundene Buch wieder an seinem Platz ist und genügend exotische Materie für die nötige Stabilität sorgt.»
«Gibt es eine andere Möglichkeit, zu Alwis zu gelangen?», fragte Bömbur.
«Gibt es nicht», antwortete die Erste.
«Niemand weiss, wo das Wurmloch hinführt», ergänzte die Zweite.
«Alwis mag keinen Besuch», schloss die Dritte.
«Nun gut», sagte Bömbur, «wir nehmen sämtliche Risiken auf uns, wir müssen unbedingt zu Alwis, koste es, was es wolle.»
«Ihr seid mutige Jungs», sagte die Erste.
«Wirklich mutige Jungs», sagte die Zweite.
«Wir mögen mutige Jungs», sagte die Dritte.
«Und weil ihr so mutig seid, haben wir etwas für euch», sagte die Erste.
«Etwas, das euch bestimmt helfen wird», sagte die Zweite.
«Was wir zumindest hoffen», sagte die Dritte.
«Wartet hier», sagte die Erste.
«Wir sind gleich wieder da», sagte die Zweite.
«Setzt euch so lange», sagte die Dritte.
Während sich die Waldweiber anschickten aufzustehen und in das nahegelegene Gehölz zu verschwinden, sahen sich die Wartenden nach einer geeigneten Sitzgelegenheit um.
«Unsere Sessel sind tabu für euch», schrie die Erste aus dem Unterholz.
«Und auf den Tisch setzt man sich nicht», fügte die Zweite lautstark hinzu.
«Setzt euch auf den Boden oder bleibt stehen», plärrte die Dritte.
Sichtlich verwirrt schauten die Kirchberger Erdleute einander an und setzten sich schliesslich auf den weichen Boden. Die drei Waldweiber liessen sich Zeit und kamen mit einem kübelgrossen Bottich aus dem Unterholz zurück, der angefüllt war mit einer übel riechenden Paste.
«Ihr könnt jetzt wieder aufstehen», sagte die Erste.
«Zieht euch Schuhe und Strümpfe aus», sagte die Zweite.
«Und wascht euch Hände und Füsse», sagte die Dritte.
Unbeholfen zogen mein Grossonkel Leopold und die Erdlinge ihre Schuhe und Socken aus. Die Erdlinge hatten wirklich grosse Füsse.
«Nicht weit von hier fliesst ein Bächlein», sagte die Erste und zeigte in die entsprechende Richtung.
«Sein Wasser ist besonders reinigend», sagte die Zweite.
«Und besonders erfrischend», sagte die Dritte.
Jetzt waren es die Wichtel und Leopold, die sich ins Gehölz schlugen und ihre Extremitäten gründlich wuschen.
«Seltsame Kreaturen, diese alten Weiber», meinte mein Grossonkel. Auch er wusch sich in dem wohltuenden Nass Hände und Füsse. «Ich frage mich ernsthaft, was es mit dieser Wascherei auf sich haben soll», fuhr Leopold fort.
«Frag nicht und mach, was die Weiber wollen», sagte ihm Bömbur.
Nach dem Reinigungsprozedere schritten die kleinen Leute zurück auf die Lichtung zu dem grossen Tisch, wo die Waldweiber damit beschäftigt waren, die stinkende Salbe kräftig umzurühren.
«Bevor ihr törichte Fragen stellt, hört uns genau zu», begann die Erste.
«Ihr müsst euch Hände und Füsse gut mit unserer Reisesalbe einschmieren», fuhr die Zweite fort.
«Nachdem ihr euch gründlich eingesalbt habt, müsst ihr euch unbedingt an den Händen halten, bevor ihr das Wurmloch betretet», ergänzte die Dritte.
«Woraus besteht eure Reisesalbe?», fragte Bömbur angewidert.
«Wir verwenden Hühnerfett, Bilsenkraut und indischen Hanf», sagte die
Erste.
«Dazu mischen wir Haschisch, Belladonna und nicht zu wenig Knoblauch», fuhr die Zweite fort.
«Und zum Abrunden geben wir Weizen, Klatschmohn und Sonnenblumenkerne dazu», schloss die Dritte.
Und was bewirkt die Salbe?», fragte mein Grossonkel.
«Sie absorbiert Tachyonen», antwortete die Erste.
«Und sorgt kurze Zeit für Stabilität», erläuterte die Zweite.
«Auf den Punkt gebracht, sie bringt euch heil durch das Wurmloch», frohlockte die Dritte.
Die drei Waldweiber lächelten sich zufrieden an, während sich die Erdleute und Leopold gründlich Hände und Füsse einrieben. Der widerliche Gestank liess sie beinahe die Besinnung verlieren.
«Gut macht ihr das, Jungs», sagte die Erste und steckte sich eine Haschisch-Zigarette an.
«Eure Schuhe und Socken könnt ihr hier lassen», sprach die Zweite.
«Die braucht ihr auf der anderen Seite nicht», fügte die Dritte hinzu.
Leopold pflückte eine stark riechende Blume und hielt sie sich unter die Nase. Die drei Waldweiber nickten ihm grinsend zu und hiessen darauf die Männlein, ihnen zum Eingang von Alwis Wurmloch zu folgen.
«Passt auf, wo ihr hintretet», sprach die Erste und nahm einen herzhaften Zug von der Haschisch-Zigarette.
«Macht euch die Füsse nicht schmutzig», appellierte die Zweite.
«Sonst war alles umsonst», gemahnte die Dritte.
Nach wenigen Metern machten sie vor einer unscheinbaren Tür Halt, prüften auf Anweisung der Waldweiber die Sauberkeit ihrer Füsse und nahmen sich bei den Händen. Dann öffnete die mit der Haschisch-Zigarette die Tür und hiess die Winzlinge, die sich wie Kindergärtler an den Händen hielten, um unter Aufsicht ihrer Lehrerin die Strasse zu überqueren, langsam hindurchzuchreiten und Alwis die besten Grüsse zu überbringen. Die Kette kleiner Menschen bewegte sich durch die Tür und verschwand augenblicklich aus dem Gesichtsfeld der drei Waldweiber.
«Werden sie es finden, das Buch?», fragte die Erste.
«Das werden wir bald wissen», antwortete die Zweite.
«In der Tat, das werden wir bald wissen», bestätigte die Dritte.