In den carrières von Paris


Auszug aus dem fünfundzwanzigsten Kapitel
In den carrières von Paris

Mein lieber Guillaume, ich weiss bis heute nicht, warum ich damals vor der Gruft von einer Angst ergriffen wurde, die mich wie von Sinnen die Flucht ergreifen liess, aber ich weiss heute mit Gewissheit, dass ich damals lernte, mich zu fürchten. Ich war ja nicht zum ersten Mal auf dem Friedhof, im Gegenteil, ich verbrachte so viel Zeit auf diesem Gottesacker, dass ich den Gestank der Toten schon gar nicht mehr wahrnahm. Normalerweise fühlte ich mich ausgesprochen wohl zwischen all den Gräbern. Und dass besagte Gruft von innen geöffnet wurde, um einen alten Mann einzulassen, ist zwar ungewöhnlich, aber keinesfalls so furchteinflössend, um eine solche Angstattacke zu rechtfertigen. Vielleicht fehlte mir in jenem Moment einfach nur die nötige Gelassenheit, um der Angst zu begegnen. Vielleicht hätte ich nur versuchen müssen, wie die Epikuräer einen angstfreien Zustand anzustreben, indem ich mir einredete, dass der Tod, der an diesem Ort allgegenwärtig ist, den Menschen nichts angeht, weil er kein Ereignis des Lebens ist. Mir fehlte damals einfach die erforderliche Ataraxie, über die wir alle hier verfügen und mit der wir diesem unwirklichen Ort begegnen.
Als vierzehnjähriger Junge wusste ich natürlich noch nicht, dass Angst ein elementares Gefühl aller höheren Lebewesen ist, dass sie eine der primären Emotionen darstellt. Und ich frage mich immer noch, ob meine heftige Angstattacke sich damals auf die Gruft als Gegenstand oder auf das mysteriöse Ereignis bezog, das rund um die unheimliche Grabkammer im Zusammenhang mit dem geheimnisvollen alten Kerl stattgefunden hat. Erstaunlicherweise riefen weitere Besuche auf dem Friedhof – vor allem das Aufsuchen der Krypta – kein Gefühl der Furch mehr hervor, die Angst hat mich so schnell verlassen wie sie über mich gekommen ist.
Dieses Vorkommnis jagte mir einerseits einen gehörigen Schrecken ein, mein lieber Guillaume, andererseits hielt es mich in keinster Weise davon ab, auch weiterhin einen Grossteil meiner verfügbaren Zeit auf dem Friedhof zu verbringen. Alle paar Nächte schlich ich mich aus dem Haus an der Rue des Saints Innocents, begab mich auf den Friedhof, wo ich zielstrebig die mir unbekannte Familiengruft aufsuchte und im Schutz der Dunkelheit insgeheim hoffte, den unheimlichen Alten dabei zu beobachten, wie er abermals in die Grabstätte eingelassen wird. Schon bald war ich mir sicher, dass der alte Mann das finstere Gewölbe beinahe jede Nacht aufsuchte, zu welchem Zweck auch immer. Bei genauerer Untersuchung der Steinplatte, die an schweren schmiedeeisernen Angeln hängt, an denen der Rost seit Äonen nagt, stellte ich fest, dass man dieses Tor in die Unterwelt durchaus von aussen öffnen kann, vorausgesetzt, man verfügt über den passenden Schlüssel. Ohne diesen Schlüssel ist es unmöglich, die steinerne Tür auch nur zu bewegen.
Als ich eines Tages René davon erzählte, was ich des Nachts in den verborgensten Winkeln des Friedhofs beobachtete, sagte er mir, dass es nichts Ungewöhnliches sei, wenn man als Angehöriger in seine Familiengruft hinuntersteigt.
«Aber es ist doch sehr ungewöhnlich, dass die Gruft jedesmal von innen geöffnet wird», hielt ich Renés Aussage entgegen.
«Dem Alten wird von innen geöffnet?», fragte René verwundert.
«Allerdings. Und es werden kaum die Verstorbenen sein, die ihm öffnen.»
«Das bestimmt nicht», bestätigte René meine Vermutung. «Wenn das so ist, muss die Gruft nicht nur letzte Ruhestätte sein, sondern auch ein Eingang ins unterirdische Höhlensystem von Paris. Etwas anderes kann ich mir nicht vorstellen.»
«In die carrières? Warum zum Teufel steigt man jede Nacht in die carrières? Bestimmt nicht, um Steine herauszubrechen.»
«Nun ja, sicherlich wird in den unterirdischen Steinbrüchen auch während der Nacht gearbeitet. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass ein alter Tattergreis aus diesem Grund in das unterirdische Labyrinth steigt.»
René setzte sich hin.
«René, Sie sind bestimmt imstande, mit Ihren wunderlichen Geräten die steinerne Tür zu öffnen. Dann könnten wir in die Gruft und – wenn Sie Recht haben – in die finsteren Höhlen und Gänge hinuntersteigen.»
Ich setzte mich ihm gegenüber auf einen hölzernen Schemel.
«Ohne einen Führer sollte man sich nicht in die carrières begeben. Sie sind ein riesiges Labyrinth, von dem niemand genau weiss, über wie viele Kilometer es sich in alle Richtungen erstreckt. In den meisten Stollen wird nicht mehr gearbeitet, weil es dort nichts mehr zu holen gibt. Und ich möchte nicht wissen, zu welchen Versammlungen sich bestimmte Leute dort unten treffen.»
René schüttelte den Kopf und wollte nichts mehr davon hören.
«Wenn ich einen Führer finde, werden Sie mir dann helfen und mich begleiten?»
Ich wusste natürlich, dass René ein neugieriger Mensch ist, der sich nichts entgehen lässt. Meines Wissens wollte er schon lange mal in das unterirdische Paris, nicht nur der Kalksteinbrüche wegen, sondern vielmehr, weil bestimmte Gerüchte darüber kursierten, dass sich betuchte und angesehene Bürger zu geheimen Zusammenkünften in den finsteren Gewölben träfen.
«Wenn du mir einen kundigen Führer bringst, werden wir die Gruft öffnen, hinuntersteigen und hoffentlich Kenntnis darüber erlangen, was der alte Friedhofgänger im Untergrund zu tun pflegt.»
Mit Hilfe der Prostituierten, die in unserem Viertel arbeiteten, fand ich tatsächlich in weniger als sechs Tagen einen Führer für die carrières. Die Dirnen fragten auf mein Bitten und Drängen hin ihre Freier, ob sie jemanden kennen, dem das unterirdische Paris vertraut sei. Und nun raten Sie mal, mein lieber Guillaume, wie dieser Führer ausgesehen hat. – Richtig, er war von kleinem Wuchs. Ein zwergenhafter Kerl, der sich laut Aussagen des Freiers im Untergrund bewegt wie ein Maulwurf, der jeden Stollen kennt wie seine eigene Hosentasche und der seine Dienste für entsprechende Bezahlung Unkundigen gerne anbietet. Er war von undefinierbarem Alter und laut eigenen Aussagen sozusagen im Untergrund aufgewachsen. Schon seit Generationen arbeiteten seine Vorfahren in den unterirdischen Steinbrüchen, so auch sein Vater, der seinen Sohn täglich mit nach unten nahm, auch wenn das offiziell nicht erlaubt war.
Er nennt sich Leo la taupe, Leo der Maulwurf. Nachdem sein Vater bei einem tödlichen Unfall in einem der ungesicherten Stollen ums Leben gekommen war, schlich er sich fortan heimlich in die unterirdischen Kalksteinbrüche, um das weitverzweigte Stollensystem auf eigene Faust zu erkunden. Über Jahre hinweg hat er das Tageslicht kaum gesehen, weshalb er von sehr bleicher Hautfarbe ist und dadurch seine lange, spitze Nase noch länger erscheint. Seine Augen haben sich so sehr an die Dunkelheit gewöhnt, dass er auch dann noch etwas sehen kann, wenn Normalsterbliche schon längst nichts mehr erkennen. Deswegen ist sein Name nicht sehr zutreffend, zumal Maulwürfe blind sind, er sich aber sicher wie eine Katze in der Finsternis bewegt. Natürlich bewegen sich Maulwürfe ebenso sicher – wenn nicht noch sicherer – in der Dunkelheit, auch wenn sie nichts sehen.
Jetzt hatte ich zwar einen Führer gefunden, aber woher sollte ich das Geld für dessen Bezahlung nehmen. Ich stand vor einem weiteren Problem. Wieder bemühte ich René um Rat. Ohne lange darüber nachzudenken, sagte er, er würde mir das Geld borgen. Ich bedankte mich wortreich bei ihm und schlug ihm vor, mich in der kommenden Nacht zur Gruft zu begleiten, damit er die steinerne Tür untersuchen könne. Nachdem ich ihm versichert hatte, dass der Alte für gewöhnlich erst Stunden später, im Morgengrauen, wieder aus der Gruft hervorkam oder die carrières an einem anderen Ort verliess, ging er auf meinen Vorschlag ein. Zudem hatte ich niemals beobachtet, dass noch andere Individuen Einlass an besagter Stelle forderten.
Wir folgten dem Alten, der wie immer zur selben Zeit den Friedhof aufsuchte und sich zu der finsteren Grabesstätte begab.
«Der sieht schon aus wie der leibhaftige Tod», bemerkte René, nachdem der Alte auf sein energisches Klopfen hin eingelassen worden war.
Wenige Minuten später standen wir vor der schweren Granitsteinplatte. René fuhr bedächtig mit der flachen Hand über den kalten Stein, als ob er versuchte, lediglich durch Berührung mehr über dessen Beschaffenheit, Härte und Dicke he­rauszufinden. Er klopfte mit einem kleinen Hämmerchen den Bereich rund um das Schlüsselloch ab. Dann hielt er seine Nase ans Loch und schnüffelte daran wie ein Trüffelschwein am Erdenreich. Dabei murmelte er unentwegt unverständliches Zeugs zu sich selber und grinste wie ein elender Dieb, der sich an einer fremden Tür zu schaffen macht. Sein Werkzeug hatte er in einem ledernen Beutel mitgebracht, den er an der Schulter trug, und auf seinem Haupt sass eine helmähnliche Kopfbedeckung, auf deren Stirnseite René eine fremdartige Vorrichtung angebracht hatte, die als Lampe diente. Das Herzstück dieser Kopflampe war ein mit tierischem Fett gefüllter Behälter aus hellrotem Obsidian. Mittels eines Dochtes brannte die Lampe auf Renés Kopf und tünchte die unmittelbare Umgebung in rötliches Licht. Man wähnte sich geradezu am Eingang zur Hölle. Fehlten nur noch die beiden Höllenhunde.
René arbeitete während des Kriegs als Eisenhuter in einer Helmschmiede und fertigte mit grosser Sorgfalt unzählige Kessel-, Sturm- und Buckelhauben an. Auch Brustharnische schmiedete er, aber bekannt wurde er schliesslich als hervorragender Helmer, der sich auf ausgefallene Wünsche betuchter Kunden spezialisierte. Eine weitere Tätigkeit, der er nachging, war die des Feilenhauers. Auch bei dieser Arbeit zeigte er viel Geschick, und seine Feilen und Raspeln aus gehärtetem Stahl erfreuten sich grosser Beliebtheit. Eines seiner Steckenpferde sind Schlösser aller Art. Egal ob Tür-, Tor-, Truhen- oder Gewehrschlösser, René kennt sie alle. Seit er nicht mehr arbeitet, fertigt er in seiner Wohnung Schlösser mit mechanischen Spielereien, aber auch aufwendig gearbeitete Laternen- und Fackelhalter. Er ist ein leidenschaftlicher Tüftler und Handwerker. Und deswegen war ich mir von Anfang an sicher, dass es für René ein Leichtes sein wird, die steinerne Tür zur Gruft zu öffnen.
«Tja, mein Lieber», sagte René ohne aufzuschauen, «das ist zwar nicht das Himmelstor, aber ohne Peterchen werden wir diese Pforte in die Unterwelt nie aufkriegen.»
«Peterchen? Wer zum Teufel ist Peterchen?»
«Peterchen ist ein Dietrich, hervorragend geeignet zum Öffnen von Türen und Toren, ohne den passenden Schlüssel zu haben und ohne das Schloss zu beschädigen.» René nahm einen Dietrich von beachtlicher Länge aus seinem Beutel und hielt ihn mir vor Augen. «Das hier, Philippe, ist eine Spezialanfertigung von mir. Den habe ich extra hergestellt, nachdem du mir von der Gruft und der steinernen Tür erzählt hast. Dieser Dietrich ist in der Länge verstellbar.» Während er diese Worte sprach, zog er das Werkzeug in die Länge und schob es wieder zusammen. «Und diesen Griff hier», er hielt mir einen Metallgriff vor die Nase, «befestigt man am einen Ende von Peterchen, falls sich das Tor nach aussen hin, also gegen einen öffnet. Aber hier ist er nicht vonnöten.»
«Sie scheinen sich ja wirklich gut auszukennen mit Schlössern.»
Aufmerksam beobachtete ich René, wie er Peterchen in die richtige Länge zog, einrastete und vorsichtig in die kleine Öffnung in der Granitplatte führte.
«In der Tat, mein Lieber, ich kenne mich in vielen Dingen gut aus. Das hilft einem im Leben.»
René biss sich auf die Lippen, während er mit Peterchen herumhantierte. Gespannt wie eine Klavierseite wartete ich auf ein erlösendes Klicken.
«Du weisst hoffentlich, mein lieber Philippe, dass wir hier etwas Illegales tun.»
«Ja, René, dessen bin ich mir bewusst. Aber eine innere Stimme sagt mir, dass ich in diese Gruft hinuntersteigen muss.»
«Eine innere Stimme? Ich nenne das Neugierde. Abenteuerlust. Der Reiz des Unbekannten.»
Plötzlich war ein seltsames Klock zu hören und die steinerne Tür öffnete sich einen Spalt breit.
«Voilà, Philippe. Auf Peterchen ist immer Verlass.»
René verstaute den Dietrich wieder in seinem Beutel, hängte diesen an die Schulter und begann, die schwere Tür langsam aufzudrücken. Ein modriger Gestank schlug uns aus der Finsternis entgegen.
«Angst?», fragte René.
«Nein», antwortete ich.
«Na dann los. Schauen wir uns die Gruft an.»
Vorsichtig betraten wir diesen Ort der Schatten und der Stille. Ich blieb dicht hinter René, im Lichtkegel, den seine Kopflampe warf. Wir stiegen die feuchtgetropften Stufen hinab, und ich muss gestehen, mein lieber Guillaume, dass mein Herz hüpfte vor Freude. Merkwürdigerweise fühlte ich mich erstaunlich wohl in der schimmligen Leichenhausluft, die in dem Grabgewölbe als erstickender Brodem über dem dunklen Gestein hing. Ich zählte fünfzehn Stufen, bevor wir in die Grabkammer gelangten, wo wir uns umsahen und viele Marmorplatten entdeckten, auf denen steinerne Särge standen. Die Gruft war von beträchtlichem Ausmass und erstreckte sich über mehrere Gewölbe, die vollgestellt waren mit zum Teil aufwendig gearbeiteten Sarkophagen und sonderbaren Steinen, die, seltsam angeordnet, in einer Art und Weise bemalt waren, dass sie Götzenbildern in ob­skuren asiatischen Tempeln glichen. Wir wähnten uns in einer Ausstellung über fremde Kulturen. Im kleinsten der Gewölbe stand ein einzelner steinerner Totenschrein, der sich nicht nur von den übrigen in seiner Verarbeitung stark unterschied, sondern auch der einzige der Särge war, der offen stand. Die Deckplatte war derart verschoben, dass man problemlos ins Innere blicken konnte. Er war leer.
«Das wird der Sarg für unseren Unbekannten sein», flüsterte René.
«Mag sein. Aber wo ist der Eingang zu den carrières?»
«Keine Ahnung. Es muss sich um einen verborgenen Eingang handeln, den wir erst noch finden müssen. Irgendwo muss er ja sein, ansonsten wären der Alte und der Pförtner, der ihm jeweils öffnet, noch hier in der Krypta und würden sich bestimmt stark über unser Eindringen wundern.»
Wir suchten die einzelnen Gewölbe systematisch ab, hielten Ausschau nach verborgenen Hebeln und drückten zuweilen auf eigenartige Ausbuchtungen an den Wänden. Aber umsonst, nichts wurde ausgelöst, keine Tür öffnete sich, kein Abgrund tat sich auf. Vereinzelt stiessen wir auf in den Stein gemeisselte Grabinschriften, deren Wortlaut wir nicht entziffern konnten, weil wir der erforderlichen Sprache nicht mächtig waren. Dann richteten wir unser Augenmerk auf den Boden und suchten nach Spuren, fanden aber auch da nichts Auffälliges, wurden uns aber sofort bewusst, dass wir unsere eigenen Fussabdrücke überall auf dem erdigen Boden hinterliessen. René zuckte nur mit den Schultern und gab mir zu verstehen, dass wir nichts dagegen unternähmen. Den Namen der Familie, in deren Gruft wir die verdiente Ruhe ihrer verstorbenen Vorfahren störten, konnten wir in dieser Nacht nicht herausfinden. Es gab – oder besser gesagt, wir entdeckten – keinen einzigen Hinweis darauf, um wen es sich handelte, der es nicht für nötig hielt, die Särge seiner Verstorbenen mit Namen zu versehen. Dafür waren die einzelnen Sarkophage mit kunstvoll gemeisselten Reliefs unterschiedlichster Themen überzogen. Es machte den Anschein, als ob das ganze Leben eines jeden Toten rings um dessen steinerne Ruhestätte in aufschlussreichen Reliefs wiedergegeben wurde. So konnten wir wenigstens feststellen, um was für Menschen es sich vom Wesen her handeln musste, die in den einzelnen Särgen ruhten. Laut den Bildtafeln lagen die Überreste von Menschen in den Särgen, die zeitlebens unglücklich oder gar wahnsinnig sein mussten. Die Steinmetzarbeiten waren von höchster Qualität. Zuweilen liessen sie uns erschaudern, so detailgetreu und wirklich stellten sie Passagen aus den Leben der leidgeprüften Verstorbenen dar.
Nachdem wir beinahe zwei Stunden in der feuchten Gruft zugebracht hatten, beschlossen wir, in der nächsten Nacht wiederzukommen, aber früher, bevor der Alte kam und Einlass forderte.

Wir versteckten uns in einem Alkoven, wo uns im Dunkeln der Schatten niemand bemerken konnte. Ohne das eigentümliche Licht, das die Obsidianlampe auf Renés Helm spendete, kauerten wir in absoluter Dunkelheit in dem kleinen, abgetrennten Nebenraum und spürten mit aller Heftigkeit, wie die Zeit quälend langsam verstrich. In diesen Momenten erkannte ich das Wesen der Zeit und kapierte, dass Zeit das ist, was passiert, wenn nichts anderes passiert. Mein lieber Guillaume, wenn man in völliger Finsternis in einer unheimlichen Gruft zwischen steinernen Särgen zusammengekauert am Boden sitzt, überkommt einen allmählich das Gefühl, gestorben zu sein. Man vermeint die wehklagenden Stimmen der Toten zu hören. Man glaubt, einer von ihnen zu sein.
Nach einer gefühlten Ewigkeit nahmen wir seltsame Geräusche wahr, als würde der Schlund in die Unterwelt sich ächzend öffnen. Wir erstarrten zu Stein, getrauten uns nicht mehr zu atmen. Plötzlich breitete sich ein fahles Licht aus im Gewölbe, dessen Quelle eine Laterne war, die von einer dunklen Gestalt, die zielstrebig auf das steinerne Tor zuging, auf Kopfhöhe getragen wurde. Die Schatten spielten derart auf seinem Gesicht, dass man meinte, seine Physiognomie würde sich ständig verändern, als verfügte das Antlitz des Pförtners über ein Eigenleben. Dann  hörten wir das Klopfen des Alten an der Tür. Wir hörten, wie das Tor geöffnet und wieder geschlossen wurde. Wir verspürten einen schwachen Luftzug, der durch die Gruft wehte, und schlussfolgerten, dass irgendwo eine zweite Tür offen stehen musste. Ohne ein Wort miteinander zu wechseln, durchschritten die zwei Gestalten das Gewölbe, vorbei am Alkoven, in dem wir kauerten, und betraten die kleine Grabkammer mit dem offenen Sarkophag, wo sich der Zugang zu den carrières befinden musste. Plötzlich verblasste das spärliche Licht wieder vollständig und wir konnten dasselbe furchtbare Ächzen hören, das wir schon kurz zuvor gehört hatten, als sich der Schlund in die Unterwelt aufgetan hatte. Nachdem sich die Totenstille wieder über die steinernen Särge gelegt hatte, entzündete René seine Obsidianlampe und wir verliessen den Alkoven.
«Der Zugang muss sich hier in der kleinen Grabkammer befinden. Und zwar genau hier unter dem offenen Sarkophag. Das Ächzen, das wir vernahmen, rührte daher, dass Stein auf Stein rieb.» René untersuchte den steinernen Sarg und den Granitsockel, auf dem dieser stand, von allen Seiten. «Irgendwo muss der Auslöser sein.»
Während René die Aussenseiten untersuchte, fragte ich mich, warum der Sarg offen stand. Ich blickte in den leeren Totenschrein, konnte aber nichts erkennen, was uns weitergeholfen hätte. Dann fuhr ich mit der linken Hand in den Sarg und befühlte die Unterseite der schweren Deckplatte. Und tatsächlich stiess ich auf einen Knauf, der sich drücken liess. Ich hiess René aufzupassen und drückte auf den Knauf. Augenblicklich fuhr der ganze Sockel zur Seite, und vor uns öffnete sich die Pforte zu den carrières.
«Bravo mein Kleiner, das hast du gut gemacht.»
René leuchtete mit seiner Lampe in den finsteren Abgrund, aus dessen Tiefen absolut nichts zu vernehmen war. Nur die kalte, modrige Luft, die uns entgegenschlug, vermittelte uns einen ersten Eindruck von dem, was uns in den carrières erwartete. Eine schmale, steinerne Treppe führte steil hinunter in die Eingeweide der Stadt. Jetzt, wo wir wussten, wie sich der Zugang zu den alten Stollen öffnen liess, beschlossen wir, in den nächsten Tagen mit Leo la taupe diesen Ort der letzten Ruhe erneut aufzusuchen und dem seltsamen Alten und seinem Zerberus in gebührendem Abstand in den Untergrund zu folgen. Am liebsten hätte ich keine Zeit verloren und wäre sofort hinuntergestiegen, hätte mich René nicht davon abgehalten, mit der Begründung, dass es ohne kundigen Führer zu gefährlich sei. Nachdem wir die Gruft und den Friedhof der Unschuldigen verlassen hatten, stellte ich erstaunt fest, dass ich während der ganzen Zeit in der Krypta von keinem Gefühl der Angst befallen wurde. Die Furcht schien von mir gewichen zu sein. Völlig aufgedreht schwärmte ich auf dem Nachhauseweg von unserer erfolgreichen Unternehmung und von den Abenteuern, die uns im unterirdischen Paris noch bevorstünden.
«Ich weiss ja nicht, worauf wir uns da unten einlassen, mein Kleiner, aber ich rate dir, nicht zu viel zu erwarten.»
René wollte meine Begeisterung dämpfen, indem er mir klarzumachen versuchte, dass Erwartungen meist nicht erfüllt werden.
Mein lieber Guillaume, ich will Sie hier nicht mit Kindergeschichten langweilen, aber ich betrachte jenen Gang in die Pariser Unterwelt als einschneidendes Erlebnis, das entscheidend dazu beitrug, dass ich zu dem geworden bin, was ich bin. Und ich hege die starke Vermutung, dass ich nur hier bin, weil ich zu dem geworden bin, was ich bin. Aber das ist nur eine Mutmassung. Wahrscheinlich sind wir alle aus keinem bestimmten Grund hier. Wir hatten einfach Pech, oder vielleicht sogar Glück. Möglicherweise geht es den zurückgebliebenen Menschen schlechter als uns, dort in der tristen Realität, wo das Dasein weiss Gott für die meisten kein Zuckerschlecken ist. Vielleicht hatten wir das unbeschreibliche Glück, auserwählt worden zu sein. Wozu auch immer. Das weiss der Teufel. Womöglich um herauszufinden, ob wir des wirklichen Lebens würdig sind, ob wir über genug Ehrlichkeit verfügen, um dieser Prüfung mit Kraft und Selbstvertrauen entgegenzutreten und sie so zu meistern, dass einer Rückkehr in die Wirklichkeit nichts mehr im Wege steht. Wir wissen es nicht. Und ich befürchte, mein lieber Guillaume, dass wir in dieser Angelegenheit ohne Hilfe von ausserhalb nicht weiterkommen, dass wir allmählich ersticken in dieser Rätselhaftigkeit, weil sie uns den Atem nimmt, langsam, aber bestimmt. Ich frage mich ernsthaft, wie viel Zeit uns noch bleibt. Zeit, die es hier womöglich nicht gibt.
Nun denn, wie dem auch sei. Damals auf jeden Fall verging die Zeit für mich viel zu langsam. Ich konnte es kaum erwarten, erneut in die Gruft hinunterzusteigen, um von dort endlich ins Reich der Finsternis, des Unbekannten zu gelangen. Als ob mich eine unsichtbare Kraft regelrecht dazu gedrängt hat. Ich konnte mich nicht dagegen erwehren, ich musste in die carrières. Ich kann nicht sagen, mein Freund, ob die Quelle dieser mysteriösen Kraft sich im Untergrunde befand und mich in die Tiefen lockte oder ob sie an der Oberfläche entsprang und mich in das Reich der Finsternis schwemmen wollte. Vielleicht war und bin ich ja nur eine hilflose Marionette, und der Himmelreicher, der die Fäden führt, schickt mich mal dorthin – in die carrières – oder hierhin – an diesen mystischen Ort. Das weiss der Teufel.
Wir trafen uns mit Leo dem Maulwurf gut eine Woche später in Renés Wohnung. Nachdem wir dem Gnom mitgeteilt hatten, von wo aus wir in die carrières hinunterzusteigen beabsichtigten, zeigte er sich wenig überrascht, obwohl ihm dieser Einstieg nicht bekannt und er davon überzeugt war, uns von einer anderen Stelle in den Untergrund zu führen, von einem Ort, den er bestimmen würde und den er für sicher, weil ihm vertraut, hielt. Er stellte keine Fragen und folgte uns auf den Friedhof der Unschuldigen. Erst als wir uns bei der verwilderten Gruft im Unterholz versteckten, erlaubte er sich die Frage, worauf wir warteten. Wir hielten es bis zu diesem Zeitpunkt nicht für nötig, ihn darüber aufzuklären, was der wahre Grund dafür war, hier an diesem Ort bedrückender Stille in den Untergrund zu gelangen. René erzählte ihm in knappen Sätzen vom unheimlichen Alten und seinen nächtlichen Besuchen in der Krypta und davon, dass eine unbekannte Kraft mich zwingen würde, dem Alten in die carrières zu folgen, um herauszufinden, was diesen und seinen Cerberus in die Kalksteinbrüche lockte.
«Das klingt alles sehr interessant», war Leos knapper Kommentar. Dann richtete er seinen Blick wieder auf die Gruft, und ein Grinsen spielte um seinen Mund, um das ihn jeder Grossinquisitor beneidet hätte.
Während der Tage zuvor hatte René für mich einen passenden Helm mit Obsidianlampe gefertigt. Wir sahen aus wie zwei fremdartige Wesen, die vom Mond oder der Sonne heruntergestiegen sind und sich anschickten, dies unbekannte Gestirn zu erkunden. Leo der Maulwurf würdigte Renés praktische Konstrukte kaum eines Blickes.
Es dauerte nicht lange und der Alte schälte sich aus der Dunkelheit, schritt leicht vornüber gebeugt an seinem Stock zwischen dem wuchernden Grünzeug zur steinernen Tür der Gruft, wo er plötzlich stehen blieb und sich um die eigene Achse drehte. Instinktiv duckten wir uns nieder, obwohl wir uns sicher waren, dass uns der Alte nicht sehen konnte, und beobachteten den Greis, wie er seine spitze Nase schnüffelnd in die Höhe hielt. Derart hatte er sich noch nie verhalten, mein lieber Guillaume, und dieser Umstand beunruhigte mich und René mehr, als wir uns eingestehen wollten.
Wir warteten eine gute Viertelstunde, krochen aus dem Unterholz und begaben uns zur Gruft, wo René Peterchen hervorholte und das steinerne Tor öffnete, als gäbe es nichts Einfacheres auf der Welt. Mir fiel auf, dass sich in der Zwischenzeit ein Schwarm Rabenkrähen auf den knorrigen Ästen der uralten Bäume, die das Totenhaus umranken, niedergelassen hatte, als ob sich hier demnächst ein Schauspiel ereignen wird, das sich die schwarzen Vögel, deren Gefieder im schwachen Licht des Mondes eigenartig bläulich schimmerte, auf keinen Fall entgehen lassen wollten. Noch ein Umstand, der sich als neu erwies, hatte ich doch bis anhin noch keinen dieser mystischen Vögel an diesem Ort der letzten Ruhe bemerkt.
Leo der Maulwurf hatte sein Grinsen nicht mehr abgelegt, und ich hatte allmählich das Gefühl, dass diese Physiognomie seinem wahren Antlitz entsprach. Irgendwie erschien er mir unheimlich. Sein Aussehen und sein Gebaren weckten bei mir kein Vertrauen, im Gegenteil, seit der Gnom sein dämliches Grinsen aufgesetzt hatte, war ich versucht, ihm zu misstrauen. Das war bestimmt nicht gerade förderlich für unser Vorhaben, aber die Tatsache, dass ich seine Fratze in der Dunkelheit der carrières nicht anzuschauen brauchte, beruhigte mich in hohem Mass.
Zielstrebig begaben wir uns in die kleine Grabkammer mit dem offenen Sarkophag. Aber der steinerne Sarg stand nicht offen, er war geschlossen. Der Deckel sass unverrückbar auf der Totenlade, wir konnten ihn unmöglich zur Seite
schieben.
«Hier will jemand, dass wir nicht in den Untergrund steigen, zumindest nicht von diesem Ort», bemerkte René, «es ist wohl besser, wenn wir verschwinden.»
Als wir uns anschickten, den Rückzug anzutreten, stand eine finstere Gestalt im Durchgang zum Hauptgewölbe. Das Licht unserer Obsidianlampen verriet uns schon bald, dass sich noch mehr fremde Gestalten in der Krypta befanden, die sich uns in den Weg stellten, um zu verhindern, dass wir diesen geheimnisvollen Ort verlassen konnten. Sie trugen allesamt schwarze Kleider und seltsame Kopfbedeckungen. Sie standen da wie die fremdartigen Götzenbilder, die rund um die Sarkophage aufgestellt waren, und starrten uns aus dunklen Gesichtern an. Sie sprachen kein Wort. Plötzlich drängten sie uns zurück in die kleine Grabkammer und stellten sich wie eine Mauer um uns herum. Ich konnte die Angst förmlich riechen, die uns in dieser bedrohlichen Situation überkam. Der Schweiss lief in Strömen und ich begann zu zittern wie Espenlaub. Dann hörten wir, wie Stein auf Stein rieb, und der uns vertraute modrige Geruch aus unbekannten Tiefen fuhr uns in die Nasen. Und wir hörten ein seltsames Klocken, das klang, als würde hartes Holz auf Stein schlagen.
Nach Minuten höchster Beklemmung gingen ein paar der stummen Gestalten auf einmal auseinander und machten eine Gasse zum Einstieg in die Unterwelt frei, aus welchem nun der tatterige Graubart unter grosser Anstrengung mit seinem knorrigen Stock stieg. Er stierte uns Jammergestalten aus toten Augen eine Zeitlang an, bevor er also sagte: «Sieh mal einer an, Eindringlinge auf frischer Tat ertappt.»
Seine Stimme war rau und kraftvoll und die Worte, die er sprach, hallten von den feuchten Wänden wider und es klang, als würden die Verstorbenen seine Äus­serungen mit leichter Verzögerung nachsprechen.
«Warum dringt ihr in die Gruft meiner Ahnen ein?»
Der Alte starrte uns an, als ob er sich unserer Seelen bemächtigen wollte. Und da keiner von uns antworten konnte, sprach der Alte weiter.
«Ihr dämlichen Grabräuber. Hier gibt es nichts zu holen ausser Staub.» Dann hob der Greis seinen Stock und zeigte auf mich. «Kleiner, bist du nicht noch ein bisschen zu jung, um als Grabräuber zu arbeiten? Und du, du hässlicher Gnom, kannst niemand anderes sein als Leo der Maulwurf. Hab ich recht?» Leo nickte und schaute verängstigt zu Boden. «Dann seid ihr gar keine Grabräuber, sondern wollt vielmehr mit Leo als Führer in die carrières. Aber warum habt ihr euch meine Gruft und meinen persönlichen Eingang dazu ausgesucht? Ihr wollt bestimmt wissen, was ich und meine Freunde zu nächtlicher Stunde im finsteren Untergrund treiben. Hab ich recht?»
Er starrte uns wieder an, als wollte er uns willenlos machen. Und da er unser Schweigen als ein Ja interpretierte, hiess er seine vermeintlichen Freunde, unsere Hände auf dem Rücken zusammenzubinden und uns die Kopflampen abzunehmen. René nahmen sie ausserdem die Ledertasche mit dem Werkzeug ab.
Nachdem wir drei wie Sträflinge in Fesseln gelegt worden waren, schickte sich der Alte an, erneut in den Abgrund zu steigen. Die finsteren Gestalten, die bis anhin keinen Ton von sich gegeben hatten, drängten uns zu der steilen Treppe, und uns blieb nichts anderes übrig, als dem Alten hinterherzusteigen, hinab in die Eingeweide der Stadt. Unter dem Schein der Fackeln, die ein paar der düsteren Gestalten entfacht hatten, konnten wir genug sehen, um festzustellen, dass sich die steile Treppe schon bald als eine Wendeltreppe entpuppte, die sich spiralförmig um eine mächtige steinerne Säule in die Finsternis hinab wand. Es kam mir vor, als hätte die Treppe kein Ende, und erst nach einer gefühlten Ewigkeit erreichten wir so etwas wie eine Kaverne, vor Äonen exkaviert von Menschenhand, zu welchem Zweck auch immer. Der imposante Anblick der unterirdischen Kathedrale, die in mystisches Licht getüncht war, liess uns unsere bedrohliche Situation für einen Moment vergessen und wir konnten den Blick nicht abwenden von den eigenartigen Skulpturen, die auf Sockeln und in Nischen standen, und von den Reliefs, die überall in die Wände eingemeisselt worden waren. Die Skulpturen hatten weder nur menschliche noch nur tierische Gestalt, vielmehr stellten sie verschiedene Mischwesen aus der Mythologie dar. So konnten wir Harpyien, Sphinxe, Basilisken, Gorgonen, Zentauren, Mantikoren und Chimären ausmachen, die allesamt ihren versteinerten Blick auf einen grossen Altar richteten, der sich in der Mitte der Kathedrale befand. Ich hatte das untrügliche Gefühl, dass sich diese mythologischen Wesen jeden Augenblick aus ihrer Starrheit befreien könnten.
Die schweigsamen Büttel des Alten führten uns hinter die Opferstätte, wo der Greis erneut vor uns trat und folgende Worte sprach: «Ihr wollt also wissen, was wir hier unten tun. In Ordnung. Ihr kommt in den seltenen Genuss, einer unserer Zeremonien beizuwohnen, bevor euch persönlich die grosse Ehre zuteil wird, selbst als Opfer einen kleinen Beitrag zu leisten an unser ehrgeiziges Vorhaben, das darin besteht, den Tod zu überlisten.»
Während der Alte diese Worte sprach, grinste er derart hämisch, dass ich vermeinte, dem Teufel persönlich gegenüberzustehen.
«Dass ich alt bin, habt ihr bestimmt schon bemerkt», ergriff der Greis wieder das Wort, «aber dass ich bereits hundertneunundzwanzig Jahre auf dem Buckel herumschleppe, das hättet ihr wohl nie gedacht. Ich werde ein biblisches Alter erreichen, und daran wird mich nichts und niemand hindern. Auch wenn es auf Kosten anderer geht. Aber sie lassen ihr Leben für eine gute Sache und wissen im Moment ihres Todes, dass ihr nutzloses, unnötiges Dasein vielleicht doch noch einen Sinn hat.»
Der Alte lächelte uns an, als könnte er keiner Fliege etwas zu Leid tun. Dann wies er einen seiner Büttel an, uns dreien ein Elixier einzuflössen, das uns in den Zustand der Apathie versetzte, gleichzeitig aber unsere Sinne schärfte. Mein lieber Guillaume, ich weiss nicht, was sie uns und den Opfern eingeflösst haben, aber ohne diesen Trunk wären wir bestimmt verrückt geworden ob dem, was wir mitanzusehen gezwungen wurden, geschweige denn ob dem, was einem als Opfer widerfuhr. Aber in dieser tiefen Teilnahmslosigkeit, in die einen der Trunk versetzt, schienen die Opfer ihr Schicksal bereitwillig anzunehmen, unempfindlich gegenüber äusseren Reizen jeglicher Art.
Während zwei der dunklen Gestalten uns an die Stelle führten, von der aus wir das zweifelhafte Vergnügen würden haben, diesem Opferritus beizuwohnen, spürte ich, wie sich die Droge einem wuchernden Pilze gleich in meinem Körper ausbreitete und sich im Kopf derart konzentrierte, dass ich urplötzlich in bereits erwähnte Apathie verfiel. Mit völliger Gleichgültigkeit nahm ich meine unmittelbare Umgebung war, ohne auch nur den geringsten Gedanken daran verschwendend, dumpf und seelenlos, dafür die Sinne aussergewöhnlich verfeinert. Die Düsterkeit in dem tiefen Gewölbe wich einer infernalischen Illumination, heraufbeschworen und hervorgerufen durch meine abgewandelten Sinneswahrnehmungen. Ich wähnte mich in einem lodernden Feuer, ich wähnte mich in der Hölle. Und, mein lieber Guillaume, ich fühlte mich wohl. Eine seltsame Geborgenheit überkam mich und gab mir das Gefühl, zu Hause zu sein.
Inzwischen war von den stummen Gestalten, von denen sich ein jeder in einen schwarzen Umhang gehüllt hatte, ein nackter Jüngling hereingeführt worden, dem es nicht anders erging als mir und meinen beiden Gefährten. Völlig unbeeindruckt von der bizarren Szenerie liess er alles mit sich geschehen. Obwohl wir wussten, dass uns dasselbe Schicksal blüht, verfolgten wir in unserer Teilnahmslosigkeit das wüste Geschehen, das sich rund um den Opferaltar ereignete.
Der Jüngling legte sich widerstandslos auf den Opfertisch. Irgendwoher ertönte klerikaler Chorgesang, unterlegt von fremdartigem Getrommel. Die stummen Gestalten in ihren Umhängen begannen jetzt, langsam um den steinernen Altar herumzugehen, den Blick ständig auf den Jüngling gerichtet, welcher seinerseits mit weit aufgerissenen Augen in die beklemmende Dunkelheit über uns blickte und mit gutturalen Lauten allmählich in den sakralen Gesang einzustimmen versuchte. Plötzlich hielten die Gestalten inne, und einer nach dem anderen entledigte sich schwungvoll seines Umhangs, sodass nach wenigen Sekunden alle bis auf ihre dunklen Masken völlig nackt vor dem Altar standen. Jetzt konnten wir erkennen, dass es sich ausnahmslos um Männer handelte. Allem Anschein nach wurden bei diesem Ritual keine Frauen geduldet. Auf einmal erschien der Alte wie aus dem Nichts am Kopfende des Altars. Auch er war nackt. Nur auf dem Kopf trug er eine seltsame Bedeckung, die ihm das Aussehen eines afrikanischen Medizinmannes mit weisser Hautfarbe verlieh. Und um seinen Hals hingen etliche Ketten aus aufgereihten kleinen Knochen. Der entblösste Alte war wahrlich kein schöner Anblick, mein lieber Guillaume. Seine fleckige, faltige Haut hing ihm von den Knochen wie totes Gewebe, und seine Weichteile baumelten zwischen seinen krummen Beinen wie die überreife Frucht des Birnbaums, bevor sie von selbigem fällt.
Der Gesang wurde lauter, und die steinernen mythologischen Mischwesen erwachten tatsächlich aus ihrer starren Struktur. Sie begannen, auf ihren Kalksteinsockeln nervös herumzuhüpfen, unterliessen es aber, von ihnen hinunterzuspringen. Der Alte hatte inzwischen damit begonnen, den Körper des Jünglings zu streicheln, zu kneten und zu massieren, wobei ihm der Geifer leicht schäumend aus dem Mund floss und sein schlaffes Glied sich allmählich versteifte. Für einen Mann in seinem Alter eine wahrlich grosse Leistung. Auch die Umstehenden standen kurz darauf mit hoch aufgerichteten Schwänzen da, nachdem sie heftig an ihnen gerieben hatten. Zu guter Letzt verhalf der Alte auch noch dem Jüngling zu einem steifen Phallus, und dem ganzen Szenarium haftete ein Bild wollüstiger Eintracht an. Nicht dass sie jetzt unerquickliche Schlüsse ziehen, mein lieber Guillaume. Ich kann Ihnen versichern, dass uns drei Gefangenen dieses trieb- und krankhafte Tun der Ritualteilnehmer keinerlei animalisches Vergnügen bereitete. Wir standen nur da, eingekerkert in unserer Fühllosigkeit und dem Willen des Alten und seiner Jünger hoffnungslos ausgeliefert.
Nachdem der Alte den leicht zitternden Körper des Jünglings eingehend begutachtet hatte und offenbar mit der Auswahl des Opfers zufrieden war, trat er ein paar Schritte zurück und begann, unverständliche Zauberformeln zu sprechen. Obwohl die übrigen nackten Männer bislang noch keinen Ton von sich gegeben hatten und sich mir der Verdacht aufdrängte, dass ihnen womöglich die Zungen fehlten, stimmten sie auf einmal in den monotonen Gesang ein und umkreisten das Opfer bedächtigen Schrittes, während sie ihre Oberkörper in rhythmischen Bewegungen hin und her bewegten. Dabei hielten sie ihre Arme ausgestreckt, als versuchten sie angestrengt, ein Stück des Opfers zu ergattern. Allmählich fiel die ganze Versammlung in eine Art allgemeinen Trancezustand. Dann traten zwei der Nackten an den Opfertisch heran und fesselten den Jüngling mit Lederriemen an Händen und Füssen, sodass dieser mit weit ausgestreckten Gliedmassen auf der dunklen Steinplatte lag wie ein Missetäter, der von vier kräftigen Pferden im nächsten Moment gevierteilt würde. Der Singsang und das Getrommel nahmen an Intensität zu und die unerträgliche Spannung kam mit einem gellenden Schrei, ausgestossen von dem widerlichen Alten, zum Höhepunkt. Jetzt reichte einer der nackten Gestalten dem Zeremonienmeister ein gebogenes Messer mit scharfer Klinge, mit welchem dieser wild und drohend durch die rauchgeschwängerte Luft fuhr, als wollte er sie in Stücke schneiden. Das monotone Trommeln und der klerikale Singsang hörten unvermittelt auf und eine bedrückende Stille lag plötzlich über dem wüsten Geschehen.
Die gekrümmte Klinge des Messers glitzerte über dem bleichen Körper des Jünglings, die Nackten hielten in ihren Bewegungen inne, traten näher an den Opfertisch und fingen damit an, ihre hoch aufgerichteten Schwänze zu massieren. Der Alte setzte das Messer unterhalb der Achselhöhle an und schnitt mit geübten Bewegungen die eine Seite des Opfers bis zum Hüftknochen auf. Der tiefe Schnitt klaffte weit auseinander und ich konnte die regelmässigen weissen Streifen der Rippen sehen. Dann schritt der Alte um den Tisch herum und öffnete mit einem weiteren sauberen Schnitt die andere Seite des Jungen, und ich vermeinte, einen leisen Schrei des Malträtierten zu hören, welcher sich zu winden versuchte, aber alsogleich in sich zusammenfiel und sich nicht mehr rührte. Das Blut troff wie Öl aus den aufgeschlitzten Seiten, floss zähflüssig in die in den Stein gehauenen Abflussrinnen, die sich am Fussende des Opfertisches vereinten, und ergoss sich von dort in eine hölzerne Schüssel, die schon bald mit dem Lebenselixier gefüllt war.
Während der Jüngling ausblutete, folgten weiteres Singen und Murmeln. Die Mantikoren, Sphinxe, Basilisken und übrigen Mischwesen wurden zusehends nervöser und ungeduldiger, sie konnten sich kaum noch auf ihren Sockeln halten. Einer der Nackten reichte dem Alten einen dickbauchigen tönernen Krug, der mich stark an die Kanopen der alten Ägypter erinnerte. Wie wir später von dem Alten erfuhren, enthielt das Gefäss die pulverisierten Reste menschlicher Organe, wobei es sich bei diesen um ein menschliches Herz, eine Gallenblase und eine Niere handelte, die von einem früheren Ritualopfer stammten. Der Zeremonienmeister schüttete einen Grossteil des Inhalts in die Schüssel mit dem frischen Blut des unglücklichen Opfers. Und während er damit begann, das Blut mit den getrockneten Eingeweiden durch kräftiges Rühren zu mischen, verfiel die ganze Ritualgruppe in hysterisches Gekreische und Gelächter. Die Nackten begannen wieder damit, ihre Schwänze zu bearbeiten, und in den nächsten paar Minuten ergoss ein jeder seinen Samen in die hölzerne Schüssel. Der Alte mischte kräftig weiter, und der Geifer lief ihm aus den Mundwinkeln.
Mein lieber Guillaume, ich konnte mir damals trotz meiner somnambulen Entrücktheit nicht vorstellen, dass man durch Einnahme eines widerlichen Trunks die leibliche Unsterblichkeit erwerben kann. Und ich kann es auch heute noch nicht. Reicht es denn nicht, an die Unsterblichkeit der Seele zu glauben? Was mögen die Beweggründe sein, um den biologischen Tod hinauszuzögern? Worin liegt der Nutzen, seinen Geist länger als nötig im Körper festzuhalten? Warum nur strebt alles Vergängliche nach dem Ewigen? Besteht womöglich darin das Geheimnis der Wirklichkeit? Es ist eine Sache, daran zu glauben, dass der Geist nach dem Tod weiterlebt, ob im Paradies, in der Hölle oder sonst wo, es ist aber eine ganz andere Sache, sein irdisches Dasein durch perverse Rituale verlängern zu wollen, das ist gegen die Natur, das ist Zuwiderhandeln gegen Gott, der seine guten Gründe dafür haben wird, dass der materielle Teil von uns sterblich ist. Wenn die Menschen sich nach Unsterblichkeit sehnen, beziehen sie das normalerweise nicht auf ihren Körper, sondern sie wünschen sich, dass ihre Persönlichkeit, ihr Wesen weiter existieren, dass die Nachwelt sich ihrer erinnert. Mein lieber Guillaume, der Mensch sollte die Natur nicht herausfordern, das steht ihm nicht zu. Vielmehr sollte er den Worten Platons glauben, dass die geistige Seele nicht sterben kann, und sich damit zufrieden geben.
Ich war heilfroh, dass ich und meine beiden Gefährten nicht gezwungen wurden, von diesem ekelerregenden Gemisch zu trinken. Einer der Nackten reichte dem irren Greis einen Becher, den dieser mit dem Trunk füllte und ihn unter gellendem Schreien in die Höhe hielt. Gierig nahmen die widerwärtigen Gestalten und der Alte kräftige Schlucke vom vermeintlichen Lebenselixier, und der zähflüssige Trunk lief ihnen über Kinn und Hals, über Brust, Bauch und Beine. Es war widerlich. Die zum Leben erwachten Mischwesen knurrten, schrien und heulten, während sich zwei der Nackten daran machten, den leblosen Jüngling auszuweiden. Sie schnitten ihm fachmännisch die Eingeweide heraus und legten die Organe in eine eisenbeschlagene Holztruhe. Dann intonierte der Alte eine fremdartig klingende Gebetsformel, und die Umstehenden gaben gutturale Laute von sich. Sie entfernten sich langsam vom Opfertisch, auf dem der leblose, gequälte Körper des Jünglings lag, ausgeweidet wie ein Stück Vieh. Ein weiterer markerschütternder Schrei des Alten schien den Chimären zu erlauben, von ihren Sockeln hinunterzuspringen und über den Körper des Opfers herzufallen. Nach nur wenigen Minuten war nichts mehr übrig vom Jungen, die Mischwesen hatten ihn mit Haut und Haaren aufgefressen, sogar das Blut hatten sie aufgeleckt. Nichts zeugte mehr vom bestialischen Ritualmord. Nachdem die dämonischen Wesen den Körper in Stücke gerissen und verschlungen hatten, stiegen sie zurück auf ihre Sockel und erstarrten wieder zu Stein.
Regungslos verharrten René, Leo und ich an unserem Platz. Keine Gefühlsregung zeichnete sich auf unseren Gesichtern ab. Die Wirkung der Droge hielt unvermindert an. Nachdem in der unterirdischen Opferstätte wieder Ruhe eingekehrt war, liessen wir uns von den Nackten in ein enges Verliess sperren, wo wir uns in unserer Apathie in die feuchten Winkel kauerten und spürten, wie die Zeit quälend langsam verging. Ebenso langsam liess die Wirkungskraft der Droge nach. Erst nach Stunden physischer und psychischer Teilnahmslosigkeit klärte sich der Nebel in unseren Köpfen auf und wir begannen wieder zaghaft miteinander zu sprechen. Im schwachen Licht einer bis zur Hälfte niedergebrannten Kerze konnten wir einander gerade noch wahrnehmen.
«Sagt mir, dass das alles nicht stattgefunden hat. Sagt mir, dass das nur ein scheusslicher Traum war, hervorgerufen durch die halluzinatorische Wirkung der Droge, die sie uns eingeflösst haben. Sagt mir, dass uns nicht dasselbe Schicksal blüht wie dem unglücklichen Jungen.»
Leo der Maulwurf starrte mich und René an wie ein Feigling, der tausend Ängste aussteht, dass sich seine schlimmsten Befürchtungen bewahrheiten könnten.
«Möglich, dass wir uns alles nur eingebildet haben.»
René starrte in die Dunkelheit über ihm. Mit erstaunlicher Gelassenheit legte er Wirklichkeit und Täuschung auf die Waagschale, konnte sich aber nicht richtig entscheiden, ob es sich um ein Machwerk unseres vernebelten Geistes, also um ein abscheuliches Gaukelwerk handelte, oder ob wir wirklich Zeugen eines krankhaften Opferrituals geworden sind. Allmählich überkam uns die Müdigkeit und wir fielen in unruhigen Schlaf, der die schaurigen Bilder wieder und wieder he­raufbeschwor.