Der Koch


Auszug aus dem vierzehnten Kapitel
Der Koch

Früh am nächsten Morgen besuchten wir den Markt und verkauften Honig und Wachs. Victor gab mir meinen bescheidenen Anteil und sagte mir, dass wir uns in zwei Stunden am Fluss treffen würden und ich die Zeit vorher nutzen sollte für Besorgungen, was ich dann auch tat. Ich schlenderte zwischen den Marktständen hindurch, hörte einem Wanderprediger zu, der mit kräftiger Stimme die nahende Apokalypse predigte, erheiterte mich am Schauspiel von ein paar Gauklern, die am Fluss ihr Lager mit den Fahrenden Leuten teilten, und stand plötzlich vor einem kleinen Zelt, das mehr einem notdürftigen Verschlag glich und einem Wahrsager und Alchemisten als Arbeitsstätte diente. Und da der Mensch von Natur aus neugierig ist, beschloss ich kurzerhand einzutreten und mir meine ungewisse Zukunft voraussagen zu lassen.
Der Wahrsager entpuppte sich als kleinwüchsiger Kerl undefinierbaren Alters, der hinter einer schäbigen Holzbank auf einem niederen Schemel sass und mich mit durchdringenden Blicken musterte.
«Wenn du keine Angst hast vor der Wahrheit, dann zögere nicht und setz dich mir gegenüber auf das Kissen, das auf dem Boden liegt und es dir etwas bequemer machen wird.»
Der Zwerg starrte mich an wie die Gorgone Medusa ihre Opfer, und ich hatte beinahe das Gefühl, zu Stein erstarren zu müssen. Schweigend leistete ich seinem Angebot Folge. Der Wicht lächelte mich an und schwieg seinerseits. Er war ganz in Schwarz gekleidet, hatte wirres, längliches Haar wie Silberdisteln und trug an beiden, viel zu grossen Ohren grob gefertigte Ohrringe, die in dem düsteren Verschlag zuweilen aufblitzten. Er hatte ein freundliches, beinahe gütiges Gesicht, dessen untere Hälfte von grauen Bartstoppeln bewachsen war.
«Du kannst mich auch mit Honig bezahlen», ergriff der Wicht plötzlich das Wort, «wenn ich ehrlich bin, würde ich diese Art der Bezahlung sogar vorziehen.»
Der Wahrsager breitete seine Ärmchen über der Holzbank aus und nickte ein paar Mal mit dem Kopf, bis ich verstand und ein kleines Honigtöpfchen aus meinem Sack klaubte und es dem Wahrsager reichte, der erfreut seine Nase an das Töpfchen hielt und zufrieden daran roch. Dann stellte er es hinter sich auf eine Holzkiste, drehte sich wieder um und starrte mich mit einer Kraft an, die mich erschaudern liess.
«An dein Ziel wirst du noch lange nicht gelangen, und der Weg dorthin wird beschwerlich sein. Schlechte Zeiten werden über dich hereinbrechen, aber du wirst stark genug bleiben und die strengen Prüfungen meistern, die die Zukunft für dich bereithält. Auch wenn du zuweilen die falschen Entschlüsse fasst und dir das Leben übel mitspielen wird, wirst du dein Ziel dennoch erreichen. Du solltest wissen, mein Junge, dass es für der Menschen Treiben Gezeiten gibt und es wichtig ist, dass man die Flut wahrnimmt und sich so von ihr zum Glücke führen lässt. Versäumst du sie aber, so wird sich die ganze Reise deines Lebens durch Not und Klippen winden. Darum halte die Augen offen und nutze die Gelegenheiten, die sich dir in deinem Leben bieten werden.Wir werden uns in Paris wiedersehen. Viel Glück, mein Junge.»
Dann schwieg der Wahrsager und bekundete mir mit seiner Gestik, seinen Verschlag zu verlassen. Verdutzt stand ich auf und trat ins Freie. Ich wusste nicht, was ich von dieser Weissagung halten sollte und beschloss, das eben Erlebte und Gehörte als das abzutun, was es denn in meinen Augen war: als Schwindelei eines Scharlatans.
Am Fluss traf ich Victor, der mich schon erwartete. Wir begaben uns zum Schiff seines Bekannten, wo dieser uns seinerseits erwartete und, nachdem er uns erblickt hatte, seine Schiffsleute umgehend anwies, mit dem Ablegemanöver zu beginnen. Der Schiffsführer, ein gross gewachsener, kräftiger Kerl mit rauer, von Wind und Sonne gegerbter Haut, trug ein zwilchenes Wams, lederne Hosen, eine abgewetzte Mütze und Wasserstiefel. Wieder musterte er mich von oben bis unten, und ich wunderte mich, dass er mir nicht auch noch wie einem Gaul ins Maul schaute und meine Zähne begutachtete. Meine Verwunderung war nicht unbegründet. Die nächsten drei Jahre verbrachte ich dann als Sklave auf dem Schiff. Victor hatte mich dem Schiffsführer für gutes Geld verkauft.
Unzählige Male fuhren wir die Seine hinauf und hinab. Während dieser Zeit durfte ich das Schiff nie verlassen, meine Welt erstreckte sich vom Bug bis zum Heck. Seltsamerweise fügte ich mich meinem Schicksal und machte vorderhand keinerlei Anstalten, von meinem schwimmenden Gefängnis fliehen zu wollen. Tagsüber schuftete ich, und während der Nacht kettete mich der Schiffsführer oder einer seiner Leute unter oder auf dem Deck an. Erstaunlich gelassen akzeptierte ich die Welt so, wie sie sich mir während meiner Gefangenschaft offenbarte, ohne zu klagen beschritt ich diesen Teil meiner beschwerlichen Reise. Ich erinnerte mich oft an die Worte des Wahrsagers und musste jedesmal lächeln, wenn ich mir eingestehen musste, dass ich ihn wiedersehen würde in der Stadt, die das Ziel meiner Odyssee, die der Inhalt meiner Träume war. Mehr und mehr betrachtete ich dessen Worte nicht mehr als Schwindelei, vielmehr waren sie jetzt eine Versicherung dafür, dass ich die Zeit auf meinem schwimmenden Verlies wohlbehalten überstehen würde, ich musste nur noch die Flut abwarten. Gott hatte die lineare Bewegung der Zeit für mich in eine kreisförmige umgewandelt und dadurch die Gegenwart ihrer Authentizität beraubt, und mir wurde allmählich bewusst, dass die Vergangenheit alle Zeit der Welt hatte, mir aber die Zukunft auszugehen begann.
Nach beinahe drei Jahren Gefangenschaft und sexueller Ausbeutung durch den Schiffsführer und einige seiner Leute beschloss ich, mich aus dem Strudel dieser immerwährenden Wiederkehr von Demütigungen zu befreien und dieser Welt, wie sie sich mir auf dieser Nussschale darbot, zu entfliehen, vorausgesetzt, es würde sich mir endlich die Gelegenheit dazu bieten. Die Schiffsleute sprachen kaum mit mir. Als Schiffshure und Zwangsarbeiter war ich in ihren Augen ein auf das Minimum menschlicher Würde reduziertes Individuum, mit dem zu sprechen es sich nicht lohnt. Entweder ignorierten sie mich oder sie zwangen mich, ihnen als Lustobjekt gefügig zu sein. Weigerte ich mich, setzte es Prügel. All das war natürlich nichts Neues für mich, hatte mir doch die Heimleitung im Waisenhaus eine ähnliche Behandlung angedeihen lassen.
Nur der Schiffskoch behandelte mich wie ein menschliches Wesen und unterhielt sich mit mir, wenn ich ihm in der Kombüse zur Hand ging. Er war ein kauziger Kerl, der es liebte, vor versammelter Mannschaft den Hühnern den Kopf abzuschlagen und zuzusehen, wie die kopflosen Federviecher flügelschlagend umherliefen, als suchten sie ihre verlorenen Köpfe, die jeweilen am Boden lagen und deren Augen zum Himmel emporblickten, als wollten sie sich bei ihrem Schöpfer beklagen, während mein Blick auf ebendiese abgrundtiefen Augen gerichtet war. Irgendwie konnte ich mich in diesen unglücklichen Tieren wiedererkennen. Auch bei mir hatte sich der Geist mit Sitz im Kopf vom Körper getrennt. Während ich in die toten Augen der Hühner blickte, lief der Koch vergnügt hinter ihnen her, um sie einzufangen und vor allem davon abzuhalten, über das Schiffsgeländer zu flattern. Über das Schiffsgeländer zu springen und ans Ufer zu schwimmen, kam für mich natürlich nicht in Frage. Ich konnte wie alle anderen Schiffsleute nicht schwimmen, ausser dem Koch, der konnte es. Er war der Meinung, dass es ein Widerspruch in sich sei, wenn der Mensch, der auf Flüssen, Seen und Meeren lebt, nicht schwimmen kann. Unter anderen Umständen hätte er es mir bestimmt beigebracht.
Dafür brachte er mir das Kochen bei, wenigstens die Grundlagen dazu. So wurde denn auch die Kombüse zu einem Ort für mich, an dem ich mich wohlfühlte. Ich half dem Koch beim Zubereiten der Mahlzeiten für meine Peiniger und kam nie auf den Gedanken, mir keine Mühe zu geben. In den frischen Zutaten erkannte ich die Natur wieder, die an uns in ihrer ganzen Pracht vorüberzog und in deren Angesicht der Mensch völlig unwichtig ist. Der Koch war ein Meister darin, aus allem, was ihm zur Verfügung stand, auf engsten Verhältnissen das Beste zu machen und genoss bei den Schiffsleuten gehörigen Respekt und grosses Ansehen. Schnell stellte er fest, dass ich über einiges Talent verfügte, was das Zubereiten von Mahlzeiten betraf, und er gestattete mir zuweilen, im Rahmen unserer Möglichkeiten neue Gerichte zu kreieren. Ich fand grossen Gefallen an der Küchenarbeit und beschloss schon damals, in Paris eine Anstellung als Koch zu suchen. Ich erzählte dem Küchenmeister von meinen Plänen, und zu meiner Überraschung eröffnete er mir, dass auch er die Absicht hege, das Schiff zu verlassen, und dass wir zwei bestimmt einen Weg finden würden, dieses Vorhaben in die Tat umzusetzen.
Als wir wieder einmal im Hafen von Le Havre lagen und unser Schiff mit Fischbein beluden, das wir nach Paris bringen sollten, teilte der Koch dem Schiffsführer mit, dass dies seine letzte Reise flussaufwärts würde und er in Zukunft einer Beschäftigung auf festem Boden nachzugehen beabsichtigte. Aber er müsse sich keine Sorgen um ihr leibliches Wohl machen. Er hätte mich zu einem würdigen Nachfolger ausgebildet, der seine Arbeit in gleicher Manier weiterführen werde, vorausgesetzt, man behandelte mich nicht mehr wie den letzten Dreck. Der Schiffsführer rümpfte die Nase und gab nach langem Hin und Her widerwillig nach. Natürlich wusste er nicht, dass auch ich mit Hilfe des Kochs das Schiff in Paris verlassen würde.
Mein jungenhaftes Aussehen war inzwischen dem eines kräftigen, kessen Mannes gewichen, der sich erstaunlicherweise immer noch von seinen Peinigern widerstandslos missbrauchen liess. Möglicherweise fand ich an dieser Art von Fleischeslust inzwischen Gefallen, ich kannte ja nichts anderes. Wie dem auch sei, in Paris angekommen, blieb es mir diesmal nicht vergönnt, dank des Kochs, der die Flucht von meinem schwimmenden Gefängnis schliesslich ermöglichte, die Stadt meiner Träume zum ersten Mal zu betreten. Ich muss gestehen, dass es ein Leichtes war, vom Schiff zu verschwinden, und ich fragte mich immer wieder, warum ich nicht schon früher abgehauen war. Unbewusst habe ich bestimmt darauf gewartet, nicht alleine verschwinden zu müssen, weil mir einerseits der Mut und die Entschlossenheit dazu fehlten, und weil ich andererseits auf die Gelegenheit wartete, die mir der Wahrsager zu nutzen prophezeite, wenn ich auch nicht mit Bestimmtheit wusste, woran eben diese Gelegenheit zu erkennen war. Die Flut war gekommen und trieb mich hinaus in eine Stadt, die überquoll vor Leben, das sich mir in allen Facetten zeigte.
Nachdem sich der Koch von den Schiffsleuten verabschiedet hatte, kehrte er während der Nacht heimlich auf das Schiff zurück. Es war Sommer und die Männer schliefen ihre Räusche auf Deck aus. Der Schiffsführer war nicht zugegen. Die sanfte Strömung der Seine liess das Schiff leicht schaukeln, und ich stellte mir vor, während ich auf den Koch wartete, wie sich die Stadt meiner bemächtigen, wie sie mich aufnehmen würde und wie ich mich in ihren Eingeweiden zurecht- und den für mich bestimmten Platz finden werde. Der Koch hatte mir immer wieder mit Nachdruck erzählt, dass es einem leicht passieren kann, dass man, wenn man sich nicht vorsieht, allmählich im Sumpf der Stadt verschwindet, wie ein Stein, der noch ein paar Mal auf dem Wasser aufklatscht, bevor er endgültig da­rin versinkt. Aus diesem Grund hatte er beschlossen, diesen Moloch zu verlassen und auf einem Schiff anzuheuern, das ihn aus den Fängen der Stadt befreien und deren Verlockungen entreissen würde. Das war vor etlichen Jahren, und der Koch war nun der Meinung, erneut Fuss fassen zu können an dem Ort, der ihn beinahe in die Verderbnis geführt hätte. Der Koch holte mich aus dem Verschlag heraus, wo ich eingeschlossen war. Wir stiegen vom Schiff hinunter und tauchten ein in das Labyrinth von Gassen, das sich auf beiden Seiten des Flusses in alle Richtungen erstreckt wie ein Pilz, der seine Umgebung überwuchert.
Zunächst hatte ich das Gefühl, dass wir ziellos durch die schmutzigen Strassen zogen, aber schon bald merkte ich, dass der Koch genau wusste, wo er hin wollte. Der Gestank war unerträglich. In den engen Gassen, am Flussufer und in dunklen Ecken zeugten die stinkenden Haufen davon, dass das Pariser Volk sich überall zu erleichtern pflegte. Hemmungslos kauerten sie am Boden und verrichteten ihre Notdurft – und niemand schien sich daran zu stören. Ein paar ganz Findige versuchten als Abtrittanbieter Profit daraus zu schlagen. Auf unserem nächtlichen Gang durch die Stadt hatten wir die Seine überquert, gingen am jenseitigen Ufer ein Stück flussabwärts und setzten uns schliesslich ans Ufer, wo mich der Koch hiess, mein Augenmerk auf die gegenüberliegende Seite zu richten, wo etliche Schiffe lagen. Eines davon brannte lichterloh. Es dauerte nicht lange, bis ich erkannte, dass es unser Schiff war, das da in Flammen stand. Der Koch hatte dafür gesorgt, dass das Feuer, das er in der Kombüse entfacht hatte, bevor er sich um mich kümmerte, sich hemmungslos über das gesamte Schiff ausbreiten konnte. Lächelnd betrachteten wir das Schauspiel, bis das Schiff funkensprühend und zischend im schwarzen Wasser des Flusses versank. Das sei nötig gewesen, sagte der Koch, die Schiffsleute seien schlechte Menschen und hätten nichts anderes verdient, als dass man ihnen ihr Schiff nahm. Er konnte es nicht verantworten, dass anderen jungen Menschen dasselbe Schicksal drohte wie mir. Er musste diesem ruchlosen Treiben endlich Einhalt gebieten. Wir lauschten noch eine Zeitlang dem aufgebrachten Geschrei der Schiffsleute, das über das stinkende Wasser bis zu unserem Aufenthaltsort getragen wurde, bevor wir uns erneut aufmachten, in das vielgestaltete nächtliche Treiben dieser ruhelosen Stadt einzutauchen.
Der Koch erwies sich als kundiger Führer, der Paris wie seine Hosentasche zu kennen schien. Wir blieben fortan zusammen und boten unsere Dienste in Gasthäusern, Kaschemmen und Kosthäusern an, bis wir über genug Geld verfügten, um ein eigenes kleines Gasthaus zu eröffnen. Es war eine kleine Gaststätte im Quartier Latin nahe Sainte-Geneviève, die sich im Erdgeschoss eines mehrstöckigen, schmalen Hauses befand. Gleich darüber erstreckte sich über zwei Stockwerke unsere Wohnung. Und über der Wohnung lagen vier Zimmer, die an Studenten der Sorbonne vermietet wurden. Studenten waren denn auch der Grossteil der Klientel, die unser Etablissement frequentierte, was dem Koch und mir sehr zupass kam. Interessiert lauschten wir den lebhaften, geistreichen Diskussionen, die mitunter in veritablen Disputen gipfelten, die zu schlichten wir es als unsere Pflicht betrachteten, indem der Koch und ich die Wortstreite mit scharfsinnigen Bemerkungen aus der Küche abschmeckten und so nicht selten für herzhafte Lacher oder pure Begeisterung sorgten. Bald genossen wir in Studentenkreisen den Ruf kochender Philosophen oder philosophierender Köche, und des Öftern kehrten bei uns neugierige Leute nicht nur wegen des guten Essens ein, sondern vielmehr darum, um einer der Deklamationen, die der Koch bei jeder sich bietenden Gelegenheit von sich gab, beiwohnen zu können.
Er betonte unablässig, wie wichtig es sei, sich gesund zu ernähren, um den Geist zu Höchstleistungen anzutreiben. Und um die Seele mit aller Weisheit, allem Wissen und aller Wahrheit zu erfüllen, sollte man nicht zaghaft mit dem Genuss von Wein umgehen. Nur dies edelste aller Naturprodukte habe das Vermögen dazu. Ohne es zu wollen, wurden wir für die Studentenschar zu zwei Musterbeispielen sokratischer Debattierkunst, und unsere bescheidene Gaststätte war schon bald ein Haus von ausgezeichnetem Renommee.
Die Jahre zogen ins Land, und eines Tages betrat der kleinwüchsige Wahrsager unsere Gastwirtschaft, nachdem ihm zu Ohren gekommen war, dass man hier nicht nur kulinarisch, sondern auch die geistigen Dinge betreffend auf seine Kosten kam. Ich erkannte ihn sogleich, er hatte sich kaum verändert, nur sein graues Haar wie Silberdisteln war jetzt schlohweiss und fiel ihm in merkwürdig kantigen Locken auf die Schultern. Sein Erscheinen sorgte augenblicklich für Aufsehen. Die Studenten verstummten und eine angespannte Ruhe herrschte im Lokal, die erst gestört wurde, als der Koch aus der Küche kam und sich lautstark nach dem Grund für das allgemeine Schweigen erkundete. Und während er sich die Hände an der Küchenschoss abwischte, schritt er forsch auf den Wahrsager zu, hiess ihn herzlich willkommen und wies ihm einen Platz an einem der vorderen Tische zu. Lächelnd setzte sich der Wahrsager und sagte, man möge ihm etwas zu essen und zu trinken bringen.
Die anderen Gäste nahmen ihre Gespräche zögerlich wieder auf und der Ge­räusch­pegel wuchs stetig an, bis der Raum erfüllt war von Stimmen, aus denen man Angespanntheit, Skepsis, Zustimmung, Erstaunen, Entsetzen, aber vor allem Lebensfreude und Leidenschaft heraushören konnte. Ich brachte dem Wahrsager einen Krug Wein und fragte ihn, ob er mich nicht wiedererkannte. Darauf antwortete er, dass es reiche, wenn ich ihn wiedererkannt hätte, und ich musste ihm auf die Sprünge helfen, bis er sich meiner Wenigkeit erinnerte. Dann erzählte ich ihm in knappen Sätzen von meiner Odyssee und dass er mir prophezeit hatte, dass wir uns hier in Paris wiedersehen würden. Er lauschte aufmerksam meinen Worten, während er das Ragout verzehrte, das ihm der Koch kredenzt hatte und das ihm vorzüglich zu schmecken schien. Ich erwähnte, dass ich, wie er mich damals in Moisson geheissen hatte, die richtige Gelegenheit abgewartet und mich die Flut bis hierher ins Quartier Latin getragen hätte, wo ich endlich mein Heil fand. Da­raufhin sagte er mir, es freue ihn, dass ich meinen steinigen Weg gegangen sei und das Glück gefunden habe, nach dem zu suchen des Menschen dringlichste Aufgabe sei. Aber es sei eine Sache, das Glück gefunden zu haben, und eine andere, es zu halten. Man dürfe sich nicht blenden lassen von der günstigen Fügung des Schicksals, denn jeder glückselige Moment, alle noch so angenehmen Zustände streben wie alles andere dem Ende zu. Man müsse das Glück pflegen sowie man eine Pflanze hegt und pflegt, damit sie gedeihen und möglichst lange Freude bereiten kann. Und so wie eine Pflanze stirbt, wenn man ihr kein Wasser und keine Aufmerksamkeit gibt, so schwindet das Glück allmählich dahin und verlässt einen, wenn man nicht den richtigen Umgang mit der Glückseligkeit zu pflegen imstande ist.
Inzwischen hatten sich ein paar Studenten an den Tisch gesetzt, und es fand in der Folge ein heftiger Gedankenaustausch statt. Es wurden etliche Krüge Wein getrunken, und die Zungen wurden schwerer und schwerer, und der eine oder der andere fiel in seiner Glückseligkeit lächelnd in einen leichten Schlummer. Weit nach Mitternacht stand der Wahrsager auf und schickte sich an, das Kolloquium zu verlassen. Ich bot ihm an, ihn ein Stück zu begleiten. Ich fühlte mich, aufgewühlt von den hitzigen Gesprächen, noch nicht müde.
Wir gingen durch die dunklen Gassen des Viertels, bis wir die Rue Saint-Jacques erreichten und ihr zum Fluss folgten. Der Wahrsager war mit einer kleinen Gruppe fahrender Leute zusammen unterwegs und machte gerade in Paris halt. Wir folgten dem linken Seineufer bis zur Pont Neuf, überquerten die Brücke und erreichten schliesslich die westliche Spitze der Île de la Cité, wo die Fahrenden ihr Lager aufgestellt hatten. In seinem Verschlag trank ich mit ihm einen starken Gewürztee, der mir mehr in den Kopf fuhr als der gesamte Wein, den ich während des Abends getrunken hatte. Als ich mich aufraffte, endlich den Rückweg anzutreten, war der Mond schon verschwunden, und eine Dunkelheit erfüllte die Stadt, wie ich sie bis anhin noch nie erlebt hatte. Und als wäre das nicht genug, schlichen wabernde Nebelschwaden wie Geistwesen vom nahen Flussufer heran, die mich langsam umhüllten und mir das Gefühl vermittelten, als würde ich mich auflösen und eins werden mit diesem flüchtigen Gebilde. Nachdem ich mutig die Pont Neuf betreten hatte, war der Nebel so dicht, dass ich keine zehn Meter mehr sah. Ich dachte an den Gewürztee und daran, dass er womöglich mein Sehvermögen beeinträchtigte, aber als ich realisierte, dass sich die Pont Neuf immer weiter erstreckte, war ich mir gewiss, dass der Kräutertrunk nicht nur mein Sehvermögen beeinträchtigte, sondern seine halluzinatorische Wirkung auf meinen gesamten Geist auszuweiten schien.
Trunken schritt ich weiter voran durch den Nebel – ich weiss nicht wie lange – bis ich vor diesem Gebäude stand und nicht zögerte, es zu betreten. Ich trug immer noch meine schmutzige Küchenschoss, und der Herr hinter der Rezeption musterte mich verwundert und hiess mich freundlich willkommen. Und, wie Sie sehen können, meine Herren, trage ich dieselbe Küchenschoss immer noch, frisch gewaschen und gestärkt freilich, und folge meiner Berufung auch hier an diesem seltsamen Ort mit unveränderter Begeisterung. Ich habe nicht die leiseste Ahnung, warum ich hier bin, und hoffe doch sehr, dass wir gemeinsam endlich Licht in dieses Dunkel bringen werden.