Monster


Auszug aus dem vierzehnten Kapitel
Monster
Regnet viel in letzter Zeit. Egal. Mag Regen genauso wie Sonnenschein. Regen in der Nacht ist mir lieber wie Regen am Tag. Ausser beim nächtlichen Tierebeobachten. Da braucht es nicht zu regnen. Sonst gibts ja nichts zu beobachten. Ausser ein paar Fröschen vielleicht. Egal. Irgendwie scheint der Regen heute eingeschüchtert. Normalerweise klingt Regen nicht traurig, sondern heiter. Fällt nieder wie ein Albtraum, mit seinem schlichten Rauschen. Plötzlich durchzuckt kaltes Höllenlicht den Nachmittag. Darauf hat er gewartet, der Regen. Jetzt rauscht er zufrieden und fröhlich vom Himmel. Jetzt gefällt er mir. Regen, wie Regen sein muss.
Die Bullen werden uns hier nie finden. Ripp geht es besser, zumindest körperlich. Seit er sich die Hand angebrochen hat, hasst er Regen. Versteh ich nicht. Was kann der Regen dafür, wenn einer nicht aufpasst und hinfällt! Es geht ihm zwar besser, aber Ripp ist nicht mehr derselbe wie früher. Wohl oder übel werd ich mich von ihm trennen. Muss nur noch den richtigen Zeitpunkt abwarten. Wird ihm nicht gefallen. Wird ihm gar nicht gefallen.
Wenn ich trennen sag, dann mein ich loswerden. Endgültig loswerden. Ripp wird je länger je mehr zum Risikofaktor. Was für eine Riesenscheisse! Der einzige Freund wird zum Risikofaktor! Gut zu wissen, dass jegliche Freundschaft nichts als ein Trugschluss ist. Ripp kommt mir zurzeit vor wie ein Toter, der mitten im Leben steht. Aber nicht wie all die pflichtbewussten, abgestumpften Erwachsenen, die für niemanden mehr eine soziale Stütze sind und leidenschaftslos dahinvegetieren. Vertrauen höchstens auf Gott! Ha. Gott – nur eine Projektion für die Wünsche der Menschheit. Nein. So jemand ist Ripp nicht. Ripp sagt, dass zu sterben viel mutiger sei als zu töten. Dass der Mensch nicht nur für jede seiner Taten verantwortlich sei, vielmehr sei er das, was er tut. Mein Gott! Was stimmt nicht mit Ripp?! Spricht von Dingen, die es nicht wert sind, dass über sie gesprochen wird. Mein Gott! Der hat eine veritable Krise! Seit dem Sturz in den Bergen spinnt er, als ob seine Gene durchgedreht wären. Wär Ripp nicht der, der er ist, hätt ich ihn zum Seelenklempner geschickt. Oder aber ich schlag ihm den Hirnkasten ein.
Ich glaub, Ripp braucht dringend was zum Ficken. Und zum Töten. Sitzt die meiste Zeit nur rum und modert vor sich hin. Er brauche Ruhe, sagt er. Er mache sich Gedanken über unser gemeinsames Projekt. Der braucht unbedingt einen Zweikampf. Einen Zweikampf zwischen ihm und dem Werkzeug des Teufels, dem Weib. Wer sonst ist schuld an der Tragödie des Menschengeschlechts, posaunt er ständig. Frauen seien nur für das Bett, sagt er. Mein Gott! Der steigert sich noch in was rein! Der hindert sich selber da­ran, dass sich das Böse in ihm weiterhin ausleben kann. Fehlt noch, dass er anfängt zu bedauern, was er tut. Und ich hab immer gemeint, Ripp sei wie ich. Wie ich, der über kein Gewissen verfügt. Zeit zum Handeln! Morgen schick ich ihn nach Zürich! In die Haifischbar. Soll sich die karibische Schlampe mal ansehn. Die wird ihn hoffentlich auf andere Gedanken bringen. – Und dann reden wir über unser gemeinsames Projekt. Ha. Wenn der wüsste! Es gibt kein gemeinsames Projekt mehr.
Frag mich, was in Ripps Gehirn vorgeht. Offenbar sieht er sich nicht mehr als Mittelpunkt der Welt. Dabei ist es genau das, was die Welt ausmacht: Jeder sieht sich als Mittelpunkt der Welt. Dieser unmoralischen, ungöttlichen und unmenschlichen Welt. Und jeder nimmt sich wichtiger als der andre und als die Welt. Immer wieder sagt Ripp, dass, wenn er tot ist, die Welt auch tot sei. Gut für ihn. Gut für uns. Jeder konstruiert sich die eigene Welt. Auch ich. Ja und!? – Während Ripp hauptsächlich rumsitzt und rostet, erklär ich der Moral den Krieg. Weil sie die grossen Triebfedern – vor allem das Böse – schwächt. Durch die Moral wird die Bestie in uns belogen. Das gilt es zu verhindern!
Ripp hat sich die Haare geschnitten und blond gefärbt. Jetzt entspricht sein Äusseres dem Foto der englischen Ausweispapiere. Jetzt ist er Engländer. So wie ich. Musste mir den Bart wegrasieren. Die Haare lass ich wachsen. Aber nicht zu lang. Und ich trag eine Brille. Wir sprechen beide fliessend Englisch. Akzentfrei. Den VW Polo haben wir entsorgt. Fahren zurzeit in einem Mietwagen rum.
Die Bullen werden uns hier nie finden. Nie. Dass wir den Spiess umgedreht haben, merken die sowieso nicht. Auf den zwei Radiosendern, die wir hier reinkriegen, wird stündlich von mir und Ripp berichtet. Und wenn auch. Wird ihnen nichts bringen. Und erst die Zeitungen! Diese Müllhalden aus Worten! Stinken zum Himmel und verursachen allerorten Heulen und Zähneklappern! Wenigstens das! Jetzt sind wir bekannt wie ein bunter Hund. Egal. Werden uns trotzdem nicht finden.
Der Mensch sei ein Fehlgriff Gottes, sagt Ripp. Dass ich nicht lache! Vielmehr sei Gott ein Fehlgriff des Menschen, sag ich. Der Mensch stamme vielleicht doch vom Affen ab, mutmasst Ripp auf einmal. Unmöglich, sag ich. Affen sind zu gutmütig, als dass wir von ihnen abstammten. Wir sind nichts als Gewürm, verdorben von Gier und Vermessenheit. Schon möglich, stimmt er mir halbherzig zu. Während Ripp das Haus kaum verlässt, zieht es mich ständig nach draussen. Ich muss gehen, damit ich klar denken kann. Wenn ich rumsitz, schlafen meine Gedanken ein. Wenn sich meine Beine nicht bewegen, rührt sich der Geist nicht und verkümmert. Darum ist Ripp nicht mehr klar im Kopf, weil er festgeklebt ist an den Ort, weil er nicht mehr wandert. Zusammen gehen wir nicht mehr unter Leute. Zu riskant. Am liebsten wandere ich allein. Am Tag oder in der Nacht. Gehen ist für mich von existenzieller Bedeutung. Ripp zieht plötzlich die sitzende Existenz vor. Unbegreiflich! Das Abenteuer des Tags findet man im Gehen. Nicht im Sitzen oder Rumliegen. Ripps Gehirn setzt Rost an. Am wohlsten ist mir, wenn ich die letzten Spuren des Menschen weit hinter mir gelassen hab. Ripp kommt mir vor wie eine züchtige Ehefrau, die das Haus nicht verlassen darf. Ha. Männer müssen raus. Raus ins feindliche Leben.
Früher hat Ripp ständig den Zampano gemacht. Wollte immer im Mittelpunkt stehen. Jetzt führt er sich auf wie ein altes Waschweib! Quasselt nur noch dummes Zeugs. Zugegeben, hier ist die Welt mit Brettern vernagelt. Ja und?! Solche Orte waren nie ein Problem für Ripp. Noch lange kein Grund, sich in sich selbst zu verkriechen. Er verkrieche sich nicht, sagt Ripp, er arbeite an unserem gemeinsamen Projekt. In Gedanken halt. Gute Ideen erfordern Zeit. Noch heute Abend würde er mir seine Idee präsentieren. Er solle zuerst nach Zürich, sag ich. Sich die Ware mal anschauen. Das könne er immer noch, sagt er. Ich würde begeistert sein. Wenn du wüsstest, denk ich.
Die Bullen werden mich nie kriegen. So was spür ich. Ich werde obsiegen. Immer!
Wandern bedeutet mir alles. Ist eine Art Lektüre der Landschaft. Alles wird zu Buchstaben. Zu Worten. Zu Sätzen. Zu Seiten. Möchte am liebsten niemals ankommen. Immer weiterlaufen. Ab und an schleudert die Sonne ihre Strahlen auf den Wald. Ich meid Wanderwege. Lieber geh ich querfeldein. Über gebrochene Bäume und zersplitterte Stämme. Nur die Stimmen der Tiere. Wenn überhaupt. Hauptsache der Mensch fehlt. Mit jedem Schritt stoss ich Türen zu neuen Welten auf. Überall neue Geschichten. Hier im Wald spür ich intensiv, dass mir nichts zustossen kann.
Die Sonne setzt sich nicht durch. Nieselregen. Regnet oft in letzter Zeit. Bin gespannt, was sich Ripp ausgedacht hat. Vielleicht taugt seine Idee was. Und ich kann sie für meine Zwecke verwenden. Nebel zieht herauf. Rabenvögel krächzen. Schlüpfriges Gras zwischen den Bäumen. Das Geschrei der Raben wird lauter. Haben wahrscheinlich einen Kadaver gefunden. Stapf an Sturzbächen entlang, der Wald wird schwärzer und schwärzer. Erklimm auf steilen Pfaden Anhöhen voller dunkler Felsen und Tannen. Überall Abgründe, die mir keine Furcht einflössen. Jetzt bin ich eins mit der Natur! Nur auf einsamen Pfaden kann ich mit mir und meinen Gedanken allein sein. Das Geschrei der Vögel verstummt auf einmal. Die Stille gewinnt an Kraft. Nur noch das leise Stöhnen aus den Tiefen des Waldes. Alles versinkt allmählich in tiefem Schweigen. Die Elemente können mir nichts anhaben, weil ich nicht verwundbar bin. Ich trotz Regen, Sonne und Wind. Ich geh weiter, bis ich Teil der Landschaft bin.
Wir machen was aus der griechischen Mythologie, sagt Ripp. Sitzen am Tisch und trinken Bier. Und zwar komponieren wir was mit Perseus und Medusa, sagt Ripp begeistert. Natürlich installieren wir nicht den Augenblick, wie Perseus das abgeschlagene Haupt der Medusa vor sich hält. Ich hör ihm zu und sag nichts. Noch nichts. Wir machen was anderes, sagt er. Unsere Installation wird sie beim Sex zeigen. Sind ja in einem Puff. Die karibische Nutte sitzt auf dem Kommissar, beschreibt Ripp. Ohne Kopf natürlich. Weil sie Medusa darstellt. Das Schlangenhaupt gestalten wir mit ihrem Gedärm. Und wo platzierst du den präparierten Kopf, frag ich. Das entscheiden wir vor Ort, sagt Ripp. Vielleicht auf dem Rumpf von Thalmann. Und Thalmanns Kopf? Was machst du mit dem, frag ich. Das weiss ich noch nicht. Uns wird schon was einfallen, meint Ripp. Warum aus der griechischen Mythologie, frag ich. Warum nicht eine biblische Szene, schlag ich vor. Zum Beispiel Salome und Johannes der Täufer. Schliesslich ist die karibische Schlampe Tänzerin wie Salome. Auch eine gute Idee, sagt Ripp. Natürlich ist das eine gute Idee. Vor allem weil die Rolle des Täufers Ripp übernehmen wird. Ha. Davon weiss er nur noch nichts. Auf jeden Fall müssen wir den beiden das Blut entnehmen, sagt Ripp. Wegen der Sauerei. Kein Problem, sag ich. Machen das ja nicht zum ersten Mal. Morgen fährst du nach Zürich und checkst die Ware,
sag ich.
 Zwei Tage später ist Ripp zurück. Hervorragendes Material, schwärmt er. Schön wie Salome, sag ich. Das gibt ein Meisterwerk, freut sich Ripp. Hab sie für nächsten Samstag gebucht, sagt er. Ab ein Uhr morgens für die ganze Nacht. Im Voraus bezahlt. Das hat ihr gefallen. Sie glaubt, ich sei ein deutscher Geschäftsmann. Gut gemacht, sag ich. Werd um zirka zwei Uhr mit Thalmann nachkommen. Klopf fünfmal an die Tür. Dann bleibt uns genügend Zeit für unser Meisterwerk. Brauchst du einen Neopren oder arbeitest du nackt, frag ich. Nackt natürlich. Wie läuft das mit dem Kommissar, fragt Ripp. Ob ich ihn zu Hause abhole und in die Haifischbar einlade, scherzt er. Lass das mal meine Sorge sein, antworte ich. Du hast genügend Zeit, um die karibische Nutte zu ficken und anschliessend ins Wachkoma zu versetzen.
Ripp ist Feuer und Flamme für unser gemeinsames Projekt. Damit würden wir Kunst offenbaren und uns Künstler gleichzeitig verheimlichen, sagt er. Das sei das Ziel der Kunst. Der Ausflug nach Zürich hat ihm gutgetan. Schwärmt von der karibischen Nutte, als würd er sie schon lange kennen. Der Thalmann habe einen guten Geschmack, sagt er. Er werde sich diesmal zusammenreissen, sagt er. Sich auf keinen Fall verlieben. Er wolle seinen Gefühlen nicht ausgeliefert sein. Er wolle sie nutzen, beherrschen und geniessen. Endlich komme er zur Vernunft, sag ich. Ja, ja, sagt Ripp. Auf keinen Fall wolle er als ein vernünftiges Tier definiert werden. Auf keinen Fall. Vor lauter Gewissen moutiert Ripp zu einem wahren Egoisten, denk ich. Er ist zwar wieder erwacht, spricht mir aber immer noch zu viel von Tugenden und Moral. Entwickelt plötzlich Mitgefühl für die Welt. Mein Gott! Dabei sollte er wissen, dass zu viel Mitgefühl zu viel Kummer nach sich zieht.
Über unser gemeinsames Werk werden die Leute sprechen, sagt Ripp. Ich sag ihm, dass die öffentliche Meinung von keinerlei Wert sei. Und dass wir als wahre Künstler uns sowieso nicht um das Publikum kümmern. Publikum existiere nicht für uns. Das sei korrekt, meint er, trotzdem würde die Öffentlichkeit darüber sprechen. Und wenn auch. Mir egal.
Unser gemeinsames Werk bedeutet mir nichts. Gar nichts. Im Gegenteil. Da mach ich nur mit, weil es um meine Zukunft geht. Ripp hat keine Zukunft. Dafür werd ich sorgen. Der wähnt sich in Sicherheit. Geistig Verwirrte wähnen sich immer in Sicherheit. Weil sie die Gefahr nicht kennen. Und die kennen sie nicht, weil in ihren Hirnkästen nur Ungeziefer gedeiht. Für die ist Denken reine Zeitverschwendung. Darum haben sie nicht mal mehr Angst vor sich selber. Die geben dem Ziel des Lebens, der Selbstentfaltung, keine Chance. Die werden sich niemals verwirklichen. Ripp glaubt zwar noch an seine Selbstverwirklichung. Soll er doch. Wirklich leben wird er nicht mehr. Wird bloss noch existieren. Ab sofort bestimme ich über seine Existenz. Ab sofort ist er nicht mehr sein eigener Teufel. Ab sofort gehört er zu meiner Hölle.
 Freundschaften bedeuten mir wenig. Beinahe nichts. Je besser ich Ripp kenne, je mehr ich ihn durchschau, um so weniger bedeutet er mir was. Seine Freunde zu kennen, ist eine gefährliche Sache. Mich kann man nicht kennen. Ich bin ein Mysterium. Ripp wird vom Freund zum Feind. Nicht zum ärgsten Feind. Aber er wird mir zum Feind. Und ich werd ihm zum Feind. Bis er das realisiert, ist es schon zu spät. Erstaunlich, dass ich mir Gedanken mach über die Zukunft. Weil es sinnlos ist. Erstaunlich! – Falsch! Ripp wird nicht vom Freund zum Feind! Ripp ist Freund und Feind! Jeder Mensch ist Freund und Feind.
Warum ich wenig Begeisterung für seine Ideen zeige, fragt Ripp. Überhaupt habe er das Gefühl, dass ich seine Gesellschaft nicht mehr schätze. Der Kerl wird misstrauisch. Ich schau ihm gebieterisch in die Augen. Er schaut gebieterisch zurück. Ziemlich mutig von ihm! Natürlich würd ich mich für seine Ideen begeistern, sag ich schliesslich. Ich lächle und klopf ihm die Schulter. Wir sind Profis, sag ich. Wir vertrauen einander. Auch in schwierigen Zeiten. Ich schau ihm lächelnd in die Augen, bis er lächelt. Bis er sagt, dass er durch unser gemeinsames Projekt mit Thalmann und der karibischen Schlampe der Selbstverwirklichung einen Riesenschritt näherkomme. Deine Selbstverwirklichung findest du im Tod, denk ich. Ripp wird sich nicht selbst verwirklichen. Ripp wird sein Selbst verwirken. Durch mein Zutun. Ha. Tut so, als wüsste er, was sein Selbst ist. Das weiss keiner!
 Es sei ihm eine Ehre, mit mir zusammenzuarbeiten, sagt Ripp. Mein Gott! Jetzt spricht er schon von Ehre! Will sich bei mir einschleimen. – Wir streifen gemeinsam durch den Wald. Wahrscheinlich zum letzten Mal. Das schlimmste Szenario, dass er sich vorstellen könne, sei, von den Bullen erwischt zu werden. Lieber würde er sterben, als vor Gericht abgeurteilt zu werden. Die Bullen erwischen uns nie, sag ich. Im Gegenteil. Wir erwischen den Bullen. Nach unserer gemeinsamen Aktion würd er wieder in den Norden gehen, sagt Ripp. Du wirst dich nur noch an einen Ort begeben, denk ich, und zwar in die ewigen Jagdgründe. Ich lächle. Warum lächelst du, fragt Ripp. Ich lächle, weil ich glücklich bin, sag ich. Warum bist du glücklich, fragt Ripp. Ich bin glücklich, weil es mir Freude bereitet, hier im Wald zu sein. Und meine Gesellschaft? Trägt die was bei zum Glücklichsein, will er wissen. Ich sag nichts und lächle.
Für einmal bleibts trocken heut. Der Regen macht Pause. Der moosbewachsne Boden ist feucht. Sehr angenehm zu gehn. Hier im Wald begegnet uns niemand. Und wenn doch, machen wir ihn platt. Im Norden würd es dir gefallen, sagt Ripp schon wieder. Bestimmt, antworte ich. Darum werd ich dich besuchen, leugne ich. Ungewöhnlich viele Rabenvögel sitzen in den Baumkronen. Sitzen hoch oben und krächzen. Hab langsam das Gefühl, dass uns die Vögel begleiten. Oder verfolgen. Die spüren, dass einer von uns nicht mehr lange ist. Deswegen sitzen sie in den Baumwipfeln. Sitzen dort oben. Krächzen und scheissen runter. Der Kommissar und die karibische Nutte werden mit dem Teufel Bekanntschaft machen, ohne in der Hölle braten zu müssen, schwärmt Ripp. Ja, sag ich. Auch du wirst diese Erfahrung machen, denk ich. Wir bleiben stehen und schauen in die Wipfel. Die Welt ist ein Gefängnis, sagt Ripp. Ist es, bestätige ich. Ein Gefängnis, in dem ich Einzelhaft vorzieh. Verständlich, meint Ripp. Leben in Gesellschaft sei die grösste Plage überhaupt, sagt er. Er sei stolz darauf, ein Auswurf von ihr zu sein. Wir tun das, wonach uns der Sinn steht, sagt er. Wir tun nicht das, von dem wir glauben, dass wir es tun müssen. Sind ja keine Hampelmänner! Tu, was du willst, denk ich. Ich werd tun, was ich tun muss. Könnte Ripp auf der Stelle totschlagen und hier liegen lassen. Den Rest würden Tiere und Tierchen erledigen. Könnte. Will aber nicht. Ripp ist mir Mittel zum Zweck. Lass ihn noch ein Weilchen von seinen eigenen Wünschen treiben. Wie ein Stück Holz. Sein Tod ist eine willentliche Notwendigkeit. Ich kann nicht anders. Ripp muss sterben. Damit ich weiterleben kann.
Wir gehen langsam. Ungewöhnlich langsam. Nicht dass wir müde oder erschöpft sind. Nein. Wir geistern nicht wie tote Seelen durch den Wald. Nein. Wir gehen langsam an Abgründen entlang. Überall eröffnen sich neue Horizonte. Ein letztes Mal soll sich Ripp lebendig fühlen. Soll seine Kraft spüren. Wir schweigen und gehen. Entziehen uns dem Zeitgeschehen. Irren ziellos herum. Als würden wir vor einem Verfolger fliehen, der uns früher oder später erwischt. Wir wandern in alle Himmelsrichtungen. Mal dahin, mal dorthin. Immer ohne Ziel. Ohne Wandern wären wir tot. Aus dem Umherwandern in Wäldern und Bergen versorgen wir unseren Geist mit Nahrung. Wir tanken Energie, die wir für unser gemeinsames Projekt brauchen, sagt Ripp. Ja, sag ich und geh weiter.
Zurück in der Hütte, trinken wir Bier. Essen Wurst und Käse. Ripp führt mir vor Augen, auf jeden Fall zusammen in den Norden zu gehen. Wir müssen gar nichts, sag ich. Er meine ja nur, sagt Ripp. Wenn schon, dann treffen wir uns im Norden, sag ich. Ripp lächelt gezwungen. Dem wird das Lächeln noch vergehn, denk ich. In wenigen Tagen wird das hier alles vorbei sein. Dann ist die Schweiz nur noch Geschichte. Ripp nur noch Erinnerung. Mit der neuen Frisur sieht Ripp aus wie ein Handelsreisender. Oder wie ein Bibelverkäufer. Ich würd als seriöser Geschäftsmann glatt durchgehen. Like a gentleman! Ha. Kann gut verbergen, dass ich kein Gentleman bin. Wir sind Künstler, die mit Identitäten spielen. Den Mietwagen hab ich für einen Monat im Voraus bezahlt. Wenn die Zeit gekommen ist, werd ich ihn entsorgen. Am besten in einem Gewässer. Muss unbedingt verhindern, dass Thalmann am Samstag nach Zürich fährt und sich mit der karibischen Nutte trifft. Muss auf Nummer sicher gehn. Aber wie!? Leichter gesagt als getan! Der Grosskotz ist ein umtriebiger Kerl. Die Nutte und der Kommissar! Mein Gott! Eigentlich will ich nichts mit denen zu tun haben. Mit Männern und Frauen überhaupt. Weil mich die Menschheit enttäuscht. Immer wieder! Die Natur nie! Durchschnittliche Menschen bevölkern die Welt. Und wohin haben uns die Normalen gebracht? Die Welt braucht dringend ein paar Verrückte, sagt Ripp. Ganz deiner Meinung, sag ich. Die Welt muss von uns Künstlern lernen, sagt Ripp. Gott habe die Welt schliesslich als Künstler geschaffen. Lass diesen verdammten Gott aus dem Spiel, sag ich.
Ripp entscheidet sich doch für die biblische Szene. Will ich ihm auch geraten haben. Morgen Donnerstag würd er sich auf den Weg machen, sagt er. Er müsse noch ein paar Dinge organisieren. Arbeitsgeräte und so. Ein günstiges, unauffälliges Hotel suchen. Ob er für mich auch ein Zimmer reservieren soll, fragt er. Nicht nötig, sag ich. Wie besprochen, stoss ich mit dem Bullen um zirka zwei Uhr morgens dazu. Wie ich mir Zutritt zum Hotel verschaffen werde, will Ripp wissen. Das lass mal meine Sorge sein, sag ich. Ehrlich gesagt, hab ich keine Ahnung, wie ich ins Hotel komme. Mir wird schon was einfallen. Wär mir das verfickte Judenschwein nicht über den Weg gelaufen, müsst ich mir jetzt keine Gedanken darüber machen, wie ich in ein verficktes Hurenhaus komme. Verdammte Riesenscheisse! Salzstein – Judenschwein – malt mit Kot – ist jetzt tot! Hätt er mir nur seinen verfickten Scheissnamen nicht gesagt. Diese verdammten Scheissnamen! Richten nur Schaden an. Menschen sollten Nummern haben. Keine Namen. Keine verdammten Vornamen und Nachnamen. Keine verfickten Zweitnamen! Oder peinliche Kosenamen. Alles überflüssiger Mist. Nummern! Das ist die Lösung. Nummern! Wie schon einmal – im Krieg! Da behältst du den Überblick! Und keiner kann bescheissen!
Durch unser Tun, durch unsere Kreativität verewigen wir uns, sagt Ripp. Bleibendes schaffen, das sei unser Ding. Wir werden nicht jämmerlich in einer Sackgasse enden wie all die Idioten, die die Welt bevölkern. Sitzen rum und tun nichts, weil ihnen jegliche Arbeit ein Klotz am Bein ist. Das einzige, was sie zustande bringen, ist Konsumieren. Hoppla, Ripp taut wieder auf. Leider zu spät. Fehlt noch, dass er vom natürlichen Willen zur Arbeit spricht. Arbeiten ist in Ordnung. Aber nicht zu viel! Nichtstun ist auch in Ordnung. Ich hör ihm zu und sag nichts.
Normale Menschen weigern sich kategorisch, hinter den eisernen Vorhang zu schauen, den sie vor ihr wirkliches Leben gezogen haben, sagt Ripp. Wagen sich nicht, auf die Realitäten des Lebens zu schauen. Bemühen sich umsonst, ihr Ego aufzublasen. Alles für die Katz. Unsere Welt ist eine Mischung aus Mystizismus und emotionalem Inferno, fährt er fort. Meinetwegen aus Gott und Teufel. Aus intaktem Verstand und völligem geistigen Defekt. Wir stehen zu unserer Unvollkommenheit! Deine mörderische Sittlichkeit und meine perverse Sexualität verquicken sich zu einer Erfahrung, derer nur Künstler wie wir teilhaftig werden. Wir haben den Blick für emotionale Realitäten. Deswegen hassen uns normale Menschen. Ripp kommt ja richtig in Fahrt. Ich hör ihm zu und sag nichts. Viele wahre Künstler wie wir sitzen in Irrenanstalten und vegetieren vor sich hin. Oder in Gefängnissen. Die Welt sei ungerecht gegenüber Menschen wie uns, meint er. Die Welt sei ungerecht gegenüber allen Menschen, sag ich. Okay, gibt er mir recht. Aber gegenüber uns sei sie noch ungerechter. Meinetwegen, sag ich. Damit müssen wir leben.