Der Turm zu Babel


Auszug aus dem zweiten Kapitel
Der Turm zu Babel
«Hast du nicht gesagt, Detlef Salzstein sei anwesend an der Vernissage?», fragte mich Ernst-Hermann.
«Ja, hab ich. Er müsste eigentlich hier sein.»
«Ist er aber nicht.»
«Offensichtlich.»
«Hätte diesen Schmierfink gern gesehen.»
«Wärt ihr früher gekommen, wüsstet ihr, dass zurzeit niemand weiss, wo Salzstein ist», sagte Mannhofer. «Er habe das Hotel kurz nach neun Uhr dreissig in Wanderschuhen und mit Rucksack verlassen, sei aber noch nicht wieder zurückgekehrt.»
«Vielleicht hat er sich verlaufen», mutmasste Ernst-Hermann.
Wir standen vor einer riesigen Glasvitrine, in deren Mitte sich ein imposanter Hundehaufen auf einer sich langsam im Uhrzeigersinn drehenden, golden glänzenden Scheibe erhob. Wie der Turm zu Babel wuchs der gewaltige Kothaufen sich verjüngend spiralförmig empor und gipfelte in einer scharfen Spitze endend, die exakt nach oben ragte wie der mahnende Zeigefinger eines Humanisten.
«Was für ein Hundehaufen!», staunte Ernst-Hermann.
«Muss von einer Dogge oder einem irischen Wolfshund sein», spekulierte ich.
«Ob der echt ist?», fragte Ernst-Hermann.
«Bestimmt», erwiderte der Mannhofer, «Salzstein arbeitet authentisch. Für seine Kunst verwendet er nur echte Scheisse.»
«Mein Gott, wie weit ist es nur mit der Menschheit gekommen.»
Allmählich scharten sich immer mehr vermeintlich Kunstbeflissene um die eindrückliche Installation, welche tatsächlich den Namen Der Turm zu Babel trug. Man war begeistert, sprach von epochaler Kunst, bedauerte, dass der Künstler nicht anwesend war.
«Der Turm zu Babel! – So ein Quatsch», meinte Ernst-Hermann, «der wurde niemals auf eine Spitze zulaufend emporgebaut. Der wurde gar nicht vollendet, wenn er denn überhaupt jemals errichtet wurde. Salzstein hätte dem Haufen die Rübe abhacken müssen. Aber so – nein.»
Ernst-Hermann handelte sich vorwurfsvolle Blicke ein.
«Wäre der Turm zu Babel vollendet worden, hätte er durchaus Ähnlichkeit haben können mit diesem Hundehaufen», konterte ich.
«Wäre, hätte, könnte! – Ja was denn jetzt?!»
Einige der Vernissagebesucher schüttelten die Köpfe oder verdrehten die Augen. Wie konnte man sich nur so unverständig, so unprofessionell benehmen.
«Das ist eine Scheissinstallation», fuhr Ernst-Hermann unbeeindruckt fort, «und das im wahrsten Sinn des Wortes.» Er musste lachen.
«Jetzt reichts aber langsam», murrte ein hagerer Kerl mit wirrem Haar links von Ernst-Hermann.

«Jungs, der Kerl beleidigt mich.»
Ernst Hermann machte Anstalten, den offensichtlich Kunstverständigen zu massregeln. Er stellte sich zwischen die Vitrine und den hageren Kerl, der einen abgenutzten schwarzen Anzug trug und nach Salbei roch, legte den Kopf ins Genick und musterte den Typen wie ein Stück abgehangenes Fleisch.
«Hier bedarf wohl jemand eines Verweises», sagte er leise und bestimmt.
Der Anzugträger rümpfte die Nase, als könnte er den Hundehaufen riechen. Ernst-Hermann verschränkte die Arme und wich nicht von der Stelle.
«Hier riechts schlecht», sagte Ernst-Hermann, den Kerl immer noch anstarrend.
«Nun krieg dich wieder ein und lass den Burschen in Ruhe», sagte ich.
Ernst-Hermann stierte den Typen noch ein paar Sekunden an, bevor er sich von ihm wegdrehte und in Richtung Foyer davonlief. Der gross gewachsene Kerl schüttelte abermals den Kopf, rieb sich die Nase und richtete die Aufmerksamkeit wieder auf die Vitrine mit dem kotigen Inhalt. Inzwischen hatten sich an die hundert Personen in der Ausstellungshalle eingefunden und zirkelten um den hinter Glas aufgebahrten Hundehaufen, als handelte es sich um die Kaaba in Mekka. Die Begeisterung war unbeschreiblich, die Installation wurde ausnahmslos in den höchsten Tönen gelobt: Was für ein epochales Werk, ein Meilenstein in der Kunstgeschichte, Salzstein definiere künstlerisches Schaffen neu, das sei Authentizität in Reinkultur, schade, dass man den Hundehaufen nicht riechen könne, dann wäre das Werk noch vollkommener.
Verzieh dich, Rupert, das brauchst du dir nicht anzuhören. Dieses Beifallstampfen und Freudengrunzen ist ja nicht auszuhalten. Geh – und ich werde mit dir gehen.
Ich hörte mir diese Lobhudelei noch ein paar Minuten an, bevor auch ich mich zurück ins Foyer begab, wo sich Ernst-Hermann an einen kleinen runden Tisch gesetzt hatte und in irgendeiner Broschüre blätterte.
«Gibts noch keine Snacks und was zu trinken?», fragte ich und setzte mich ebenfalls.
«Nein. Erst nach der Ansprache.»
«Und wer spricht heute?»
«Ein Weggefährte von Salzsteins Vater. Irgendein Kunsthistoriker aus Dresden. Professor Sinsheimer, Pinkas Sinsheimer. Steht hier drin.»
Ernst-Hermann reichte mir die Broschüre. Ich blätterte sie durch, bis ich auf den Artikel über Sinsheimer stiess. Während ich sein Porträtfoto betrachtete, fiel mir auf, dass irgendwas mit Sinsheimers Gesicht nicht stimmte. Ich stierte das Bild an, konnte aber nicht auf Anhieb herausfinden, was falsch war, was ungewöhnlich war.
«Was stimmt nicht mit Sinsheimers Gesicht?», fragte ich Ernst-Hermann.
«Keine Ahnung. Frag ihn doch selber. Im Gegensatz zu Salzstein ist er  hier.»
«Lass uns nach oben gehen. Da sollen ein paar wirklich grosse Bilder hangen.»
«Jetzt gleich? Sinsheimer spricht in ein paar Minuten.»
«Schon klar. Aber erst in ein paar Minuten. Die verspäten sich doch immer und erzählen alle denselben Quatsch.»
«Und warum hörst du dir diesen Quatsch immer wieder an?»
«Das frag ich mich auch.»
In der Tat, Rupert, das frag ich mich auch.
Ich legte den Prospekt zurück und stand auf. Ernst-Hermann folgte mir einen Stock höher, sich ständig beklagend, dass es noch nichts zu knabbern gab. Oben trafen wir auf Mannhofer, der mit verschränkten Armen und seitlich geneigtem Kopf ein Gemälde von gigantischem Ausmass betrachtete.
«Heilige Scheisse», sagte Ernst-Hermann, «was ist das denn?»
Das Bild zeigte einen kahlen Hügel, auf dem vier Kreuze standen, an die nackte Menschen genagelt waren. Offenbar waren sie tot, denn an den Beinen und am Holz entlang rann ihre Scheisse und versickerte allmählich im steinigen Erdenreich. Ihre Eingeweide hatten sich entleert.
«Das Bild heisst Ort des Schädels», antwortete der Mannhofer, ohne sich zu rühren.
«Ort des Schädels?», wiederholte Ernst-Hermann, «warum Ort des Schädels?»
«Hättest halt die Broschüre lesen sollen», sagte ich, «dann wüsstest du jetzt, dass Ort des Schädels auf Hebräisch Golgota heisst.
«Golgota?! – Der Hügel, auf dem Jesus gekreuzigt wurde?»
«Ja. Genau der. Ich würde diesen Hügel eher Ort der Scheisse nennen.»
«Warum? Nur wegen Salzstein?»
«Nicht nur. Aber auch. Mag ja sein, dass der Hügel, von einer bestimmten Position aus betrachtet, die Form eines Schädels hat. Vielmehr aber ist es ein Hügel, der über lange Zeit mit Scheisse gedüngt wurde.»
«Wir düngen auch mit Scheisse. Was ist so besonders daran?»
«Mit der Scheisse von Gekreuzigten», beteiligte sich der Mannhofer abermals am Gespräch, ohne sich zu rühren. «Die Gekreuzigten haben den Hügel Golgota regelrecht vollgeschissen, nachdem sie ihr erbärmliches Leben ausgehaucht und die Gedärme sich entleert hatten.»
«Widerlich! Ekelerregend!»
«Das mit Scheisse gedüngte Erdenreich soll schliesslich den Golgothan hervorgebracht haben – das klassische Fäkalmonster, ein lebender Kothaufen.»
«Dieser Salzstein ist ein Schwein», meinte Ernst-Hermann.
«Salzstein ist ein Künstler, kein Schwein», konterte der Mannhofer.
«Meinetwegen, aber ein versauter Künstler.»
«Quatsch! Ein Künstler kann nicht versaut sein, egal wie er tut, was er tut.» Jetzt wandte sich der Mannhofer zu uns. «Ich bin auch Künstler, ich steh auf Nonnen in Windeln.»
«Was sagt er?! – Er steht auf Nonnen in Windeln?» Eine starke Wallung durchfuhr Ernst-Hermanns Körper, von unten nach oben und von oben nach unten. «Mein Gott! Ich bin umgeben von Perversen!»
Und worauf stehst du, Rupert? Bist du nicht auch Künstler? Oder versuchst zumindest, einer zu sein?
«Wer zum Teufel fragt mich das?»
Ich, ich frage dich das. Ich, dein Schatten.
«Lass uns nach unten gehen, Rupert. Für den Moment hab ich genug gesehen und gehört», sprach Ernst-Hermann.
Ich zockelte hinter ihm her. Und mein Schatten folgte mir auf dem Fusse.
Unten im Foyer waren immer noch ein paar kulturbeflissene, schwarz gekleidete junge Frauen damit beschäftigt, Wein, Wasser, Orangensaft und Bier bereitzustellen und allerlei Häppchen anzurichten.
«Wird aber auch Zeit», murrte Ernst-Hermann und schnappte sich ein Canapé.
«Das Buffet ist noch nicht eröffnet», sagte eine der Frauen, «erst nach Sinsheimers Rede.»
Der Seitenlichtsaal war zum Bersten voll. Sinsheimer war gross gewachsen, aber sein Rücken war bereits etwas gewölbt und er stand leicht vornübergebeugt neben dem Präsidenten des Kunstvereins. Bei seinem Anblick musste ich sofort an Karyatiden denken, welche unter der Last der steinernen Balkone, die sie stützen, allmählich einzuknicken drohen.
Karyatiden knicken nicht ein, Rupert. Nur dann, wenn höhere Gewalt mit im Spiel ist.
«Halt die Klappe, Schatten!»
Wahrscheinlich lastete Sinsheimers Historie tonnenschwer auf seinen Schultern. Abgesehen von der krummen Haltung stimmte irgendetwas mit Sinsheimers Gesicht nicht. Aber was? Ich kam einfach nicht dahinter. Inzwischen war auch der Mannhofer wieder nach unten gekommen. Ernst-Hermann sah sich um, hielt wahrscheinlich Ausschau nach dem hageren Kerl, der auf seinen Schwanz getreten war.
«Salzstein ist noch nicht aufgetaucht», flüsterte der Mannhofer. «Er ist offensichtlich verschwunden, hat sich aus dem Staub gemacht.»
«Er wird schon seine Gründe haben», meinte ich.
Vielleicht ist ihm was zugestossen.
«Ach was», intervenierte Ernst-Hermann, «der will einfach nicht hier sein, weil er zurzeit lieber woanders ist.»
«...übergebe ich jetzt das Wort Herrn Pinkas Sinsheimer», schloss der Präsident des Kunstvereins die Ansprache, in der auch er bedauerte, dass Salzstein nicht zugegen war.
«Ruhe jetzt», sprach eine Frau links von uns.
«Geht das schon wieder los», konstatierte Ernst-Hermann und bedachte die Frau, die aussah, als würde sie jeden Moment vom Boden abheben, mit mürrischem Blick, der jeden anderen Menschen eingeschüchtert hätte.
«Das gilt vor allem für Sie», sagte die Frau selbstbewusst.
Sag deinem Kumpel, er soll endlich die Schnauze halten.
«Halt lieber du die Schnauze», dachte ich.
Sinsheimer räusperte sich vernehmlich, bevor er also Folgendes sprach: «Detlef hätte sich sehr gefreut ob diesem gewaltigen Aufmarsch von Kunstfreunden.» Er hielt kurz inne und liess den Blick durch die Menge schweifen. «Aber er ist nunmal nicht hier, auch wenn er hier sein sollte. Offenbar hat er Wichtigeres zu tun, als hier zu Ihnen zu sprechen, als hier seinen Triumph auszukosten, als einfach hier zu sein und uns alle mit seiner Anwesenheit zu erfreuen.» Es folgte eine rhetorische Pause. «Hoffen wir, dass er wohlbehalten von der Wanderung zurückkehrt und geben wir uns zurzeit mit der erfreulichen Tatsache zufrieden, dass nicht weniger als vier Selbstporträts an den Wänden dieses wunderbaren Kunsthauses hangen und er auf uns herniederblickt wie der Demiurg höchstpersönlich.»
Wird er nicht, Rupert. Er wird nicht wohlbehalten zurückkehren.
«Nun denn, wie dem auch sei. Ich begrüsse Sie alle recht herzlich zu dieser einzigartigen Ausstellung, einer Ausstellung, die Massstäbe setzt.»
Beistimmendes Gemurmel. Sinsheimer hob die rechte Hand, bat um Ruhe. Der Scheisshaufen in der Vitrine drehte sich unablässig und unbeeindruckt im Uhrzeigersinn. Ernst-Hermann kratzte sich an der Nase.
Mein Gott, müssen wir uns das anhören!?
Hätte der Mensch Macht über seinen Schatten, hätte ich meinem Gehirn und meinem Körper schon lange aufgetragen, die Schattenfunktion zu deaktivieren.
«Detlef Salzstein leidet nicht an Anosmie, wie viele glauben und was man durchaus annehmen könnte. Nein, nein, er verfügt über einen tadellos funktionierenden Geruchssinn. Und dennoch hat er stinkenden Unrat zu seinem bevorzugten Malmittel auserkoren. Und dass er das getan hat, dass er so malt, wie er malt, ja darüber kann sich die Kunstszene wahrlich glücklich schätzen.»
Erneutes Gemurmel. Vereinzelt Beifall klatschende Hände.
«Dass er sein Handwerk versteht, brauche ich nicht zu erwähnen. Und einer, der sein Handwerk so versteht, wie es mein Freund Salzstein tut, für den Malen an sich keine Herausforderung mehr darstellt, der sucht eben diese Herausforderung in anderen Dingen, in Dingen, die er für seine Kunst braucht und deshalb suchen muss. Salzstein hat die Herausforderung im Unrat gefunden. Im Unrat, den es überall und zuhauf auf dieser Welt gibt.»
«Er wandert nicht, um die Landschaft zu geniessen», raunte der Mannhofer von hinten, «er wandert, um Scheisse zu finden.»
«Ekelhaft, widerlich», grummelte Ernst-Hermann.
«Diesen einzigartigen Haufen hier hinter mir fand Salzstein im Innenhof eines Stadthauses in Dresden. Er wäre beinahe reingetreten.»
Mit einer mehr als saloppen Handbewegung zeigte Sinsheimer auf die Vitrine hinter ihm, während er den verklärten Blick abermalig über die Köpfe der Anwesenden schweifen liess und dabei vergeblich versuchte, angemessen zu lächeln.
«Was stimmt nicht mit seinem Gesicht?», fragte ich mich in Gedanken und erlaubte gleichzeitig meiner Aufmerksamkeit, sich von Sinsheimers Ausführungen abzukoppeln.
Los, wir verlassen diesen scheinheiligen Ort und schweifen durch ein von Klugheit durchdrungenes Universum, bis wir in einem vierdimensionalen Hyperwürfel die Zeit vergessen und im Ozean der eigenen Erinnerungen ertrinken, um schliesslich geläutert und frisch erstarkt in die Gegenwart gespült und wiedergeboren zu werden, genauso wie eine ungeborene Leibesfrucht den Geburtskanal passieren muss, um im Leben anzukommen.
Aufmerksamkeitszuwendung hin oder her, ich hatte auf einmal genug. Genug von Sinsheimers Vortrag, genug von Salzsteins Kunst, genug von der blossen Anwesenheit kunstbeflissener Menschen, die sich ständig auf alles krankhaft viel einbilden, ohne jemals zu realisieren, dass sie schon lange Gefangene ihrer trügerischen Vorstellungen sind, dass sie schon lange im Kerker ihrer Vermessenheit dahinvegetieren.
Lass uns nach draussen gehen und eine rauchen. Ginge es nach mir, hätten wir ebenso gut zu Hause bleiben und die Falten am Sack unseres Hundes zählen können. Aber ich habe nun mal dir zu folgen, und bedauerlicherweise nicht du mir. Aber in einem anderen Universum ist es Gott sei Dank andersrum: Dort folgst du mir und nicht ich dir, weil du mein Schatten bist.
«Wir haben keinen Hund», dachte ich.
Ohne etwas zu sagen, löste ich mich von der Menschentraube und ging nach draussen, setzte mich an eines der Tischchen und zündete eine Zigarette an. Die Sonne war gerade dabei, vorwurfsvoll die letzten Strahlen auf mein Haupt herabzuschleudern, als sich die Tür erneut öffnete und ein seltsamer, verdorben wirkender schlaksiger Kerl mit schweren Lidern, dessen Blick verriet, dass er zum Auspeitschen zur Verfügung steht, heraustrat. Zuerst dachte ich, es wäre der Kerl, der Ernst-Hermann auf den Schwanz getreten ist. Aber ich täuschte mich, er war es nicht. Ohne um Erlaubnis zu fragen, setzte er sich zu mir an das Tischchen. Ich grüsste ihn mit einem kaum wahrnehmbaren Nicken. Er nickte zurück.
Nirgends hat man seine Ruhe.
Ich rauchte und widmete meine Aufmerksamkeit den wenigen Fischen im Zierteich, die gemächlich herumschwammen und nach Nahrung suchten. Ich musste an Balthasar denken. Der Fremde am Tisch musterte mich unablässig. Das konnte ich spüren.
«Kennen wir uns?», fragte ich nach Minuten hartnäckigen Schweigens.
«Nein, wir kennen uns nicht.»
«Sie sind nicht von hier.»
«Exakt. Ich bin nicht von hier. Ich bin aus Deutschland. Aber das tut hier nichts zur Sache.»
«Sie sind eigens wegen Salzsteins Vernissage aus dem Ausland angereist?»
«Nein. Bin ich nicht. Ich habe andere Gründe, hier zu sein.»
«Tatsächlich?!»
«Ja. Salzstein und seine Kunst interessieren mich nicht im Geringsten. Auch wenn sie – zugegebenermassen – recht originell ist.»
Der Fremde zündete erneut eine Zigarette an. Dann holte er aus der Innentasche seines Jackets ein Kuvert hervor und schob es mir zu. Seine Bewegungen waren steif, irgendwie roboterhaft, als würde er ferngesteuert.
«Ich bin beauftragt, Ihnen diesen Brief zu überreichen. Und nur deswegen bin ich hier.»
«Sie wissen also, wer ich bin.»
«Eigentlich nicht. Ich weiss lediglich, dass Sie die Person sind, der ich dieses Schreiben geben soll.»
«Und wer hat Ihnen aufgetragen, dies zu tun?»
«Weiss ich nicht. Ich kenne den Auftraggeber nicht. Ich weiss nur, dass ich Ihnen dieses Schreiben aushändigen soll.»
«Und worum geht es in dem Schreiben?»
«Weiss ich nicht. Und will ich gar nicht wissen.»
Der Mann erhob sich und machte Anstalten zu gehen. Ich klaubte den Briefumschlag vom Tisch und musterte ihn.
«Lesen Sie ihn, wenn Sie zu Hause sind. Auf Wiedersehen.»
Ich steckte den Brief ein und fragte mich gleichzeitig, ob ich den Fremden wirklich wiedersehen würde, und ob ich es denn überhaupt wollte, diesen geheimnisvollen Kerl wiederzusehen. Ich schüttelte den Kopf und befreite mich von diesen Gedanken, bevor ich mich wieder ins Innere begab, wo die drei schwarz gekleideten jungen Frauen gerade damit beschäftigt waren, eine beachtliche Anzahl kurzstieliger Gläser aufzureihen.
Warum öffnest du den Brief nicht gleich? Würde mich interessieren, was drinsteht.
«Ich lese ihn, wenn wir zu Hause sind», sagte ich zu mir und zu meinem Schatten. «Mein Gott, jetzt spreche ich schon im Pluralis Majestatis.»